Bei der MTU laufen 300 Digitalisierungsprojekte gleichzeitig
Dr. Pamela Herget-Wehlitz verantwortet bei der MTU Aero Engines den IT-Bereich. Die Digitalisierung des Unternehmens geht über ihren Schreibtisch.
05.2018 | Autor: Thorsten Rienth
Autor:
Thorsten Rienth
schreibt als freier Journalist für den AEROREPORT. Seine technikjournalistischen Schwerpunkte liegen neben der Luft- und Raumfahrtbranche im Bahnverkehr und dem Transportwesen.

Frau Dr. Herget-Wehlitz, das Konzept, mit dem die MTU ihre Digitalisierung vorantreibt, heißt „Digital Transformation Program“. Der Begriff ist recht abstrakt – was verbirgt sich hinter ihm?
In den vergangenen Jahren haben wir der kernproduktnahen Digitalisierung große Aufmerksamkeit gewidmet. Mittlerweile ist der Fokus deutlich erweitert. Wir treiben die Digitalisierung mit aktuell 300 Einzelprojekten breit im Unternehmen voran. Zukünftig wird der Blickwinkel noch größer: fachbereichs- und bereichs-, ja oft sogar standortübergreifend. Kurz: Wir wollen zukünftig noch stärker als bisher einen „end-to-end“-Ansatz fahren. Wirklich umfassenden Mehrwert schafft die Digitalisierung nur bei einer ganzheitlichen Betrachtung. Damit dies in koordinierter Form geschieht, haben wir das „Digital Transformation Program“ aufgesetzt.
Doch auch im digitalen Zeitalter werden Flugzeuge von realen Triebwerken in die Luft gebracht.
Das stimmt – und ist grundsätzlich eine sehr gute Nachricht: Die Digitalisierung wird unser Geschäft nicht überflüssig machen. Auch in Zukunft wird an realen Triebwerken kein Weg vorbeiführen. Ihre Entwicklung und Produktion verlagert sich jedoch immer mehr in die digitale Welt. Schon heute nutzen wir umfangreiche Simulationen über die gesamte Prozesskette hinweg. Aber wir sehen noch sehr großes Potenzial. Im Kern geht es darum, unsere Geschäftsprozesse effizienter und schneller zu machen. Zum Beispiel, indem wir die Zeit von der Konzeption über die Entwicklung und Fertigung bis zur Markteinführung eines Triebwerks entscheidend beschleunigen.
Wie kann dies konkret aussehen?
Indem wir zum Beispiel mit digitalen Modellen kostspielige und zeitintensive Versuchsträger, teure Validierungstests sowie Werkstoffentwicklungen teilweise am Computer nachbilden. Oder für unsere Triebwerksbauteile eine geometrische Durchgängigkeit der Konstruktionsmodelle bis in die Fertigung entwickeln. Natürlich ist auch der „Digitale Zwilling“ ein großes Thema. Mit ihm wollen wir die digital vorliegenden Informationen über unsere Produkte über ihren gesamten Lebenszyklus bündeln. Deshalb arbeiten wir daran, diese Daten komplett in einem modernen, leistungsfähigen Daten-Backbone zu integrieren.

Das klingt nach enormen Auswirkungen auf ohnehin schon komplexe Prozessketten.
Wir sind ja nicht die Einzigen, die die Digitalisierung vorantreiben. Sie ist auch bei unseren Lieferanten, Kunden und Partnern großes Thema. Bei der MTU sind wir gerade dabei, entlang der gesamten Wertschöpfungskette vollständige Transparenz herzustellen. So können wir Lieferungen absichern, Bestände minimieren und den Produktfortschritt zu jedem Zeitpunkt darstellen. Zielsetzung ist nicht weniger, als die weitgehende Vernetzung der Systeme zu Lieferanten und Kunden. Damit können wir Störungen in der Lieferkette in Echtzeit bewerten und optimale Gegenmaßnamen entwickeln. Dazu arbeiten wir an selbstlernenden Algorithmen, die als kennzahlenbasierte Assistenzsysteme frühzeitig auf Engpässe und außergewöhnliche Vorkommnisse hinweisen. Parallel zu alldem wird die Digitalisierung auch die administrativen Bereiche verändern – etwa über Robotic Process Automation und Blended Learning.

Die MTU 4.0
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Für das „Digital Transformation Program“ sind sicherlich auch einige neue Kollegen nötig. Mit welchen Qualifikationen passen Bewerber besonders gut in die Projekte?
Sie brauchen natürlich den sprichwörtlichen Blick über den Zaun und bringen am besten auch noch eine gute Portion Neugierde mit. Wichtig ist zudem der Mut, bisherige Prozesse und zukünftige Tools kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Digitalisierung ist schließlich kein Selbstzweck. Sie steht immer unter der Prämisse, dass sie echten Mehrwert schafft und uns und unsere Produkte messbar voranbringt.