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Widerøe hält Norwegen zusammen, jetzt mit neuen E2-Jets
Norwegen ist das längste Land Europas, die Regionalfluggesellschaft Widerøe spielt die entscheidende Rolle für den Zusammenhalt. Jetzt fliegt sie mit neuen E2-Jets.
08.2018 | Autor: Andreas Spaeth | 6 Min. Lesezeit
Autor:
Andreas Spaeth
ist seit über 25 Jahren als freier Luftfahrtjournalist in aller Welt unterwegs, um Airlines und Flughäfen zu besuchen und über sie zu berichten. Bei aktuellen Anlässen ist er ein gefragter Interviewpartner in Hörfunk und Fernsehen.
Norwegen ist das Land der Seefahrtpioniere, Polarforscher und Fjorde, so sieht es die Welt und so sieht sich das skandinavische Land auch selbst. Dabei ist Norwegen auch eine große Luftfahrtnation, und das vor allem aus der Not heraus. Denn mit 2.500 Kilometer Länge vom Oslofjord bis zum Eismeer an der russischen Grenze ist es nicht nur das längste Land Europas, sondern, durchschnitten von Fjorden und durchsetzt von Gebirgen, auch eines der geographisch am schwierigsten zu bereisenden, zumindest am Boden. Vor allem der dünn besiedelte Norden des Landes war lange ziemlich abgeschnitten von den Bevölkerungszentren im Süden und der Hauptstadt Oslo. Mehrere Tage braucht das Postschiff, lange das einzige Verkehrsmittel, von der arktischen Finnmark aus bis Bergen. Seit 1934 bereits entwickelte sich langsam die norwegische Regionalluftfahrt. Damals gründeten fünf Freunde die Fluggesellschaft Widerøe. Deren Flugzeuge waren anstatt mit Fahrwerken mit Schwimmern ausgerüstet und Jahrzehnte lang darauf angewiesen, vom reichlich vorhandenen Wasser aus zu operieren.
Flugverkehr vom Wasser aus
Auch nach dem Krieg gab es in Norwegen noch kaum befestigte Flugplätze. Daher fand der Flugverkehr zunächst weiter vom Wasser aus statt, vor allem mit der Noorduyn Norseman, einem einmotorigem, kanadischen Buschflugzeug für zehn Passagiere. Mit der Norseman fing die Regionalgesellschaft Widerøe 1949 ihre Nachkriegsdienste an, wechselte dann auf die modernere DHC-3 Otter. Bis 1971 flogen die Otters in Norwegen. Erst da waren genügend Flughäfen mit STOL-Pisten für Kurzstarts fertiggestellt, so dass Widerøe auf die größere und robuste DHC-6 Twin Otter umstellen konnte, die bis zu 22 Passagiere befördert, und auf Wasserflugzeuge verzichtete. Gerade einmal 800 Meter Piste benötigt die Twin Otter. Widerøe regte den Bau von 19 Kleinflughäfen dieser Dimension im ganzen Land an. Im März 1967 wurde ab Bodø die erste Route eingeführt, dort kam ab 1968 die Twin Otter mit dem Kennzeichen LN-LMN zum Einsatz. Das Flugzeug ist heute im norwegischen Luftfahrtmuseum in Bodø zu besichtigen. Die letzte von insgesamt 18 betriebenen Twin Otters wurde bei Widerøe erst 2000 ausgemustert.
In Bodø direkt am Polarkreis, wo sich der Firmensitz von Widerøe befindet, kennt man das Gefühl der Isolation: Bis 1972 durfte das lokale Fußballteam, wie alle Mannschaften aus dem Norden des Landes, nicht mitspielen in der nationalen Liga. Die logistischen Schwierigkeiten für die anderen Mannschaften, um zu den Spielen zu kommen, waren einfach zu groß. Erst Anfang der 1970er Jahre war ein Netz von regionalen Flughäfen soweit entwickelt, dass die Anreise per Flugzeug möglich wurde. Seitdem dürfen auch die Nordnorweger in der ersten Liga mitspielen, im Fußball und generell.
Oslo und zurück am gleichen Tag für (fast) alle Norweger
Heute verfügt Norwegen über fast 50 per Linienflug angebundene Flughäfen, die es 99 Prozent der Bevölkerung ermöglichen, von ihrem Heimatort aus Oslo zu erreichen und am gleichen Tag zurückzukehren. „Das ist weltweit einmalig“, sagt Stein Nilsen, der CEO von Widerøe, die inzwischen zu Skandinaviens größter Regionalgesellschaft avancierte. Sie fliegt mit ihrer Flotte aus 46 Flugzeugen rund 2,8 Millionen Passagiere jährlich zu 46 Zielorten vor allem in Norwegen und bedient damit doppelt so viele Inlandsziele wie ihre Wettbewerber. Über 3.000 Mitarbeiter ermöglichen mehr als 450 Flüge jeden Tag. Widerøe bietet abgelegenen Kommunen gerade in Nordnorwegen die lebenswichtige Anbindung an die Außenwelt, was sich darin widerspiegelt, dass 40 Prozent des Streckennetzes der Gesellschaft Routen sind, die sie im öffentlichen Auftrag und mit Subventionen betreibt. „In 84 Jahren ist unser Streckennetz so gewachsen, dass es fast jeden Flughafen Norwegens erreicht“, so Stein Nilsen. „Nicht weil das einfach ist, sondern weil es wichtig ist für unsere Kunden.“
Exklusiv-Antrieb Mit den beiden PW1900G Triebwerken verbrauchen die E2-Jets 17,3 Prozent weniger Treibstoff als ihre Vorgänger.
Exklusiv-Antrieb Mit den beiden PW1900G Triebwerken verbrauchen die E2-Jets 17,3 Prozent weniger Treibstoff als ihre Vorgänger.
Reichweite Die neuen Jets sollen Widerøe-Kunden nicht nur von einem Ende Norwegens an das andere bringen, sondern auch neue europäische Ziele anfliegen.
Reichweite Die neuen Jets sollen Widerøe-Kunden nicht nur von einem Ende Norwegens an das andere bringen, sondern auch neue europäische Ziele anfliegen.
Von der Turboprop zum Jet
Seit dem 24. April 2018 ist bei Widerøe eine neue Ära angebrochen, die der Jets. Bereits Anfang 2017 hatten die Norweger drei Embraer E190-E2 bestellt und wurden nun zum weltweit ersten Betreiber dieser aus der erfolgreichen Vorgänger-Modellreihe der E-Jets weiterentwickelten Variante. Der entscheidende Unterschied liegt in den neuen Triebwerken des Typs Pratt & Whitney PW1900G, die bei der E2 an völlig neuen Tragflächen hängen. Dies ermöglicht der E2 im Vergleich zum Vorgänger eine um mehr als 17 Prozent verbesserte Treibstoffeffizienz.
„Die E190-E2 bedeutet einen großen Schritt für Widerøe“, sagt CEO Stein Nilsen. „Auf längeren Routen wie von Bergen nach Tromsø oder Bodø brauchen wir mehr Kapazität. Bisher dauern diese längsten von der Bombardier Q400 bedienten Strecken zweieinhalb Stunden. Mit der E2 können wir das unter zwei Stunden schaffen und gleichzeitig die Kapazität von bisher 78 auf 114 Sitze erhöhen.“ Damit wagt Widerøe auch erstmals die Expansion nach Deutschland: Seit August sind die Norweger mit ihren neuen E2-Jets von Bergen aus nonstop sowohl nach Hamburg als auch nach München unterwegs. „Aber trotzdem wollen wir unterhalb des Radars der Konkurrenz bleiben und uns aus deren Märkten heraushalten“, so Nilsen, also nicht SAS oder Norwegian in die Quere kommen.
Rückkehr nach Brasilien
Für Widerøe ist es eine Rückkehr zu Embraer – bereits von 1992 bis 1998 hatten die Norweger drei 30-sitzigen Embraer E-120 Brasilia-Turboprops in ihrer Flotte. „Es ist uns ein Vergnügen, wieder ein Teil der Embraer-Familie zu sein“, freute sich Stein Nilsen bei der Übernahme des ersten neuen Flugzeugs im Herstellerwerk in Sao José dos Campos bei Sao Paulo. Und nachdem die Einführung der drei E2-Jets so gut lief, kann sich Widerøe sogar einen nächsten Schritt vorstellen: „Wir könnten der Launch Customer für die neue E175-E2 werden“, ließ Nilsen seine erfreuten Gastgeber und Lieferanten in Südamerika wissen.
Norwegen Ein Aushängeschild Norwegens sind dessen Fjorde, die sich fast vollständig über die mehr als 25.000 Kilometer lange Küste erstrecken.