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Arktische Frachtflieger: Transport ans Ende der Welt

In der Arktis gibt es keine Straßen. Alles was die Menschen brauchen, bringen Frachtflugzeuge in den hohen Norden. Manche sind bald 80 Jahre alt.

01.2024 | Autor: Andreas Spaeth | 8 Min. Lesezeit

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Andreas Spaeth ist seit über 25 Jahren als freier Luftfahrtjournalist in aller Welt unterwegs, um Airlines und Flughäfen zu besuchen und über sie zu berichten. Bei aktuellen Anlässen ist er ein gefragter Interviewpartner in Hörfunk und Fernsehen.

Leben in Alaska: Fahren Sie über das Bild für eine größere Ansicht

Leben in Alaska: Egal ob Lebensmittel, Baustoffe oder Online-Bestellungen, alles wird per Luftfracht geliefert.

Ein riesiges, weitgehend menschenleeres Territorium im hohen Norden des Globus mit oft extremen Wetterbedingungen und großen Entfernungen. So könnte man die Arktis beschreiben. Schon ein paar wenige Zahlen machen deutlich, dass das Leben hier ohne das Flugzeug nicht denkbar wäre: Alaska, der 49. Bundesstaat der USA, ist größer als ganz Westeuropa, hat aber nur 730.000 Einwohner, rund 300.000 Menschen leben außerhalb der einzigen beiden größeren Städte. Oder Grönland - die größte Insel der Welt, wo die Distanz von Nord nach Süd stolze 2.670 Kilometer beträgt. Die Oberfläche ist zu 82 Prozent vom dauerhaften Panzer des bis zu 3.000 Meter dicken Inlandeises bedeckt, nur an der Westküste gibt es eisfreie Stellen. Der kanadische Norden ist sogar anderthalb mal so groß wie Grönland und misst fast das Zehnfache der Landmasse Deutschlands. Hier verteilen sich 118.000 Menschen und in der gesamten Region gibt es gerade einmal fünf Flughäfen mit asphaltierten Pisten.

Air Greenland hat den einzigen Großraumjet in der Arktis

An der Westküste von Grönland leben die meisten der insgesamt 56.000 Einwohner, gerade etwa so viele wie in der deutschen Stadt Baden-Baden wohnen. Straßen gibt es in Grönland keine, aber Air Greenland fliegt alle 13 zivilen Flugplätze an, nur zwei können bisher Jets abfertigen, ab 2024 sollen es fünf sein. Der bisher einzige Flughafen für Großraumflugzeuge ist Kangerlussuaq am Ende eines Fjords in Westgrönland, eröffnet 1941 als US-Militär-Basis. Von hier betreibt Air Greenland die interkontinentale Linienverbindung nach Kopenhagen. Und das seit 2023 mit einem werksneuen Airbus A330neo, dem einzigen weltweit in der Arktis stationierten zivilen Langstreckenjet. Über das früher als Söndre Strömfjord bekannte Drehkreuz ist mit Umsteigen jedes abgelegene Dorf mit oft kaum mehr als einem guten Dutzend Bewohnern erreichbar. Dafür gibt es landesweit 47 Heliports, wo zumindest Versorgungsflüge landen.

Knallroter Kurier: Air Greenland stellt vor allem mit Dash-8 innerhalb Grönlands die Anbindung der wichtigsten größeren Siedlungen sicher, die oft auch nur wenige hundert Einwohner haben.

Online-Bestellung mit Auslieferung ans Ende der Welt

Der wichtigste Flughafen von Alaska liegt in Anchorage und ist kurioserweise einer der weltgrößten Frachtflughäfen. 2022 rangierte er nach dem umgeschlagenen und im Transit beförderten Frachtvolumen von 3,4 Millionen Tonnen global auf Platz drei, hinter Hongkong und Memphis, aber noch vor Shanghai. Das liegt zum einen daran, dass ein Großteil der Güter per Flugzeug in den nördlichsten Teil der USA geliefert wird, aber auch an seiner geografischen Lage zwischen Ostasien und der Ostküste der USA. Selbst die modernsten Boeing 747-8F-Frachtjumbos müssen hier in der Mitte eines der wichtigsten Warenströme der Weltwirtschaft ihre Tankstopps einlegen.

Jeden Mittag um kurz vor zwölf ist High Noon, wie Perlen auf der Schnur reihen sich dann die Jumbos im Landeanflug. Im Minutentakt setzen die Boeing 747-Transporter mit jeweils bis zu 120 Tonnen Fracht im Laderaum auf einer der beiden Pisten auf, nirgends auf der Welt sieht man so viele dieser mächtigen Maschinen auf einmal. Fünf, acht oder neun Stunden zuvor sind sie an der US-Ostküste, in Europa oder in Asien gestartet. Knapp zwei Stunden später ist das Vorfeld wieder halb leer, die Flugzeuge längst auf dem Weg an ihr eigentliches Ziel, den Bauch voller Fracht von Kontinent zu Kontinent, aber auch mit Gütern für und aus Alaska.

Ende der Welt: Ohne Luftverkehr wäre das Leben in vielen abgelegenen Orten Grönlands unmöglich.

Die Waschmaschine fliegt zum Post-Tarif

Neben dem globalen Cargo-Jetset gibt es aber hier in Alaska und nebenan im Norden Kanadas auch kleine lokale Gesellschaften als Spezialisten für die Auslieferung in die weite Wildnis von so ziemlich allem, was man so braucht zum Leben: Von Bauholz oder Brennstoff bis zu frischen Früchten und Medikamenten. Dazu gibt es in Alaska ein einzigartiges System: Selbst Waschmaschinen und anderes Großgerät können sich die Einheimischen zum billigen Post-Tarif ins letzte Dorf schicken, beziehungsweise: fliegen lassen. „Wir erhalten vom Staat die Differenz zwischen den Posttarifen und den tatsächlichen Luftfrachtkosten, das ist für die Regierung billiger, als Straßen zu bauen“, erklärt Edward Peebles von Warbelow’s Air, die ab Alaskas zweitgrößter Stadt Fairbanks solche Versorgungsflüge macht – zum Beispiel nach Fort Yukon am Yukon River, gerade mal 233 Kilometer entfernt.

Schnell mal eben ins Auto springen und nach zwei Stunden auf menschenleerer Straße dort sein – so einfach ist das in Alaska nicht. Die Menschen hier siedeln weit verteilt in vielen entlegenen Dörfern an, Wasser ist immer in der Nähe – schwimmfähige Flugzeuge sind daher das häufigste Verkehrsmittel. „Allein der Mittelteil Alaskas ist größer als Kalifornien – aber Sie müssen sich Kalifornien ohne Straßen vorstellen“, sagt Edward Peebles. Er und seine Firma leben davon, dass viele Menschen in Alaska ihre Siedlungen nicht per Auto erreichen können – sogar Alaskas Hauptstadt Juneau ist nur aus der Luft oder per Schiff zugänglich. Warbelow‘s Air betreibt ein gutes Dutzend sechssitziger Piper Navajos. „Wir sind die Lebensader für viele Dörfer, 28 Siedlungen bedient Warbelow’s allein aus Fairbanks“, erklärt der Manager.

Unverwüstliche Oldies: Everts Air in Fairbanks betreibt DC-6 aus den 1950er und mehrere Curtiss C-46 von 1944, mit denen bis heute Fracht und Treibstoff in Siedlungen in die Wildnis geflogen werden, wohin keine Straßen führen.

Kartonweise Windeln für Fort Yukon

Draußen vor dem Terminal für Kleinflugzeuge wird an diesem strahlend blauen Frühlingstag gerade eine Piper für den Flug nach Fort Yukon beladen. Um das Flugzeug herum stapeln sich Pappkartons voller Babywindeln, Waschmittel und Spielzeug. Pilot Richard verteilt alles sorgfältig im Frachtraum in der Flugzeugnase und hinter der Kabine. Sogar in die kleinen Gepäckfächer in den Tragflächen hinter den beiden Propellern wandern noch ein paar Rollen Klopapier, alle Staumöglichkeiten werden genutzt. 18 Kilogramm Freigepäck hat jeder Passagier, der für den Hin- und Rückflug zwischen Fairbanks und Fort Yukon über 200 US-Dollar auf den Tisch legen muss, viel Geld für die meist zum Stamm der Athabaska-Indianer gehörenden Einwohner der Siedlung. Dort, gerade mal 13 Kilometer nördlich des Polarkreises, leben jetzt im Sommer bis zu 800 Leute, im Winter sind es manchmal nur 200, Lebensgrundlage ist das Fischen und Jagen. Heute sind nur drei Passagiere gebucht, also können noch ein paar Kisten mehr verladen werden und garantieren bei Warbelow’s Air die immer gute Auslastung.

Lebenswichtiger Versorgungsweg: Fahren Sie über das Bild für eine größere Ansicht

Lebenswichtiger Versorgungsweg: Zweimotorige Flugzeuge sind die typische Wahl um den Transport von Menschen und Gütern zwischen regionalen Zentren und abgelegenen Dörfern Alaskas zu garantieren.

Natürlich müssen auch große und schwere Güter per Luftfracht in jedes Dorf gelangen, zum Beispiel Baumaterial oder Boote. Das schaffen die kleinen Pipers von Warbelow’s Air nicht, doch gleich gegenüber des General Aviation Terminals findet sich auf dem Vorfeld von Fairbanks jede Menge geeignetes Fluggerät. Das Subventionssystem in Alaska und ähnliche Regelungen in der kanadischen Arktis hat ganze Geschwader von Kolbenmotor-Frachtern aus den 1940er und 1950er Jahren am Leben erhalten, die überall sonst in der Welt längst verschrottet wurden. Die unverwüstlichen Evergreens sind trotz aufwendiger Wartung in ihrer Robustheit im hohen Norden unersetzlich. Gleich neben dem Hangar, in dem Everts Air gerade eine ihrer DC-6 von 1954 wartet, steht eine noch fast ein Jahrzehnt ältere Frachtmaschine des Typs Curtiss C-46 - ausgeliefert an die US Air Force im Februar 1945, damals das größte zweimotorige Flugzeug der Welt.

Über die steile Leiter klettert die Besatzung an Bord – der riesige Laderaum ist vollgestapelt mit Rigips-Platten und Zementsäcken für den ganz hohen Norden. „Niemand kann glauben, dass diese Maschine 1945 gebaut wurde“, sagt Rob Everts, Chef von Everts Air, der die Veteranen auch selbst fliegt. Nur wenige Schritte weiter wird ebenfalls an einer C-46 desselben Jahrgangs gearbeitet – mit ihr fliegt die Tochterfirma Everts Air Fuel Treibstoff in abgelegene Gebiete. Der Name der unverwüstlichen Zweimotorigen ist Programm: „Hot Stuff“. Für Frachtpilot:innen in Alaska ist keine Aufgabe zu schwierig: „Ich bin früher mit der DC-6 auf die Aleuten-Inseln geflogen“, erinnert sich Everts. „Wir mussten die Straße als Landebahn benutzen und konnten wegen des extremen Wetters sowieso nur selten runtergehen – aber wenn wir kamen, dann war es für die Einwohner wie Weihnachten“.

Frachtflugzeuge: Sie sind in einem Großteil der Arktis die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Fliegende Veteranen im hohen Norden

Man sagt Kälte konserviert. Das gilt definitiv für viele Flugzeuge aus dem vergangenen Jahrhundert, die nirgends auf der Welt mehr aktiv sind – nur in der nordamerikanischen Arktis. Viele Flugzeugfans pilgern deswegen nach Alaska, aber Rob Everts, der Chef von Everts Air in Fairbanks, betont: „Das ist hier kein Museum. Wir verdienen mit diesen alten Flugzeugen unser Geld. Wir nutzen sie, weil sie perfekt geeignet sind für die Anforderungen hier.“ Die ältesten Maschinen bei Everts Air sind die beiden Curtiss C-46 von 1945, heute kurios anmutende Ungetüme mit Spornrad, die immerhin acht Tonnen voluminöse Fracht in die Wildnis schleppen können. Buffalo Airways im benachbarten kanadischen Whitehorse, bekannt durch die TV-Serie „Ice Pilots“, betreibt sogar noch eine C-46 mit Baujahr 1944.

Ihre 1945 gebaute Schwestermaschine mit dem Kennzeichen C-FAVO hat in ihrem langen Leben zwischen 1964 und 1969 sogar für die Lufthansa Fracht geflogen. Buffalo Airways verfügt auch über vier Lockheed L188 Electras, alle über 65 Jahre alt, damals das einzige amerikanische Turbopropflugzeug. Die Electra sollte Ende der 1950er Jahre die DC-6 ersetzen – doch Everts Air und Buffalo Airways fliegen bis heute auch noch ein halbes Dutzend genau dieser Viermotorigen, die älteste von 1954. Aber auch im hohen Norden kann man sich der Moderne nicht ganz verschließen. Buffalo Airways führte 2023 ihren ersten Jet ein – eine 1989 gebaute und zum Frachter umgerüstete Boeing 737-300. Und ihre Kollegen bei Canada North, die größte arktische Passagier-Airline, schauen sich derzeit sogar das französische Luftschiffprojekt „Flying Whales“ zur künftigen Frachtbeförderung im hohen Norden an.

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