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Das virtuelle Triebwerk

Mit Hilfe digitaler Zwillinge will die MTU in Zukunft den gesamten Lebenszyklus eines Triebwerks virtuell abbilden und weiter optimieren – von der Entwicklung bis hin zum Flugbetrieb.

05.2024 | Autor: Tobias Weidemann | 6 Min. Lesezeit

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Tobias Weidemann ist seit mehr als 20 Jahren als Journalist und Content-Berater tätig. Er berichtet über Technik- und Wirtschaftsthemen, oft mit Schwerpunkt auf Business-IT, Digitalisierung und Zukunftstechnologien.

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Virtual Engine:
Eine Virtual Engine ist das virtuelle Abbild eines physischen Triebwerks bestehend aus dem ‚As Designed Twin‘, ‚As Built Twin‘ und ‚As Used Twin‘ sowie dem digitalen Faden über den Lebenszyklus des Gegenstands hinweg. Für die Erstellung und Bewertung der Virtual Engine werden spezielle Fähigkeiten, Tools, Prozesse und Daten benötigt.

Luftfahrtantriebe sind Hochtechnologie der Extraklasse. Während sich in den Anfängen der Passagierluftfahrt die Ingenieur:innen noch mühsam über Zeichentische beugten, um diese komplexen Maschinen auszulegen, hat die Einführung des Computers diese Prozesse wesentlich vereinfacht und beschleunigt. Und die Entwicklung geht weiter: „Gerade das interdisziplinäre Zusammenspiel der unterschiedlichen Fachdisziplinen, die an einer Triebwerksentwicklung beteiligt sind, kann in der virtuellen Welt besser erfolgen und mit den jeweiligen Anforderungen an das Produkt in Einklang gebracht werden“, erklärt Dr. Anna Wawrzinek, Digital Transformation Managerin in der Triebwerksentwicklung bei der MTU Aero Engines in München. Die MTU hat dabei besonders die Entwicklung der zukünftigen Triebwerke im Blick, etwa die zweite Generation des Getriebefans, den die MTU zusammen mit Pratt & Whitney realisiert oder im militärischen Bereich die New Generation Fighter Engine.

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As Designed Twin: Das ist der Soll-Zwilling, der Geometrie und Verhalten eines Produkts auf Basis von Soll-Daten aus Analytik und Design beschreibt.
As Built Twin: Dieser Ist-Zwilling beschreibt Geometrie und Verhalten eines individuellen und realen Produkts und enthält alle Abweichungen aus Fertigung und Montage des Produkts.
As Used Twin: Darunter versteht man einen Ist-Zwilling, der Geometrie und Verhalten eines Produktes im Betrieb darstellt. Er enthält Abweichungen durch Schädigung und Alterung im Betrieb.
Digitaler Faden (Digital Thread): Das ist der Datenfluss über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts.

Digitaler Zwilling für die zukünftige Triebwerksentwicklung

Bereits seit einiger Zeit arbeiten bei der MTU Triebwerksingenieur:innen an der „Virtual Engine“, also am virtuellen Abbild eines Triebwerks bestehend aus verschiedenen sogenannten digitalen Zwillingen. „Ein digitaler Zwilling ist mehr als ein statisches Modell zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es handelt sich vielmehr um die virtuelle Darstellung unserer Produkte mit ihren Veränderungen über die Zeit“, beschreibt Dr. Martin Engber, MTU-Chefingenieur Virtual Engine. Ein digitaler Zwilling erlaubt den Entwickler:innen, beliebige Szenarien zu simulieren und daraus Rückschlüsse auf Entwicklung, Herstellung, Betrieb und Erhalt des Produkts zu ziehen.

Im ersten Schritt entsteht der sogenannte Soll-Zwilling (‚As Designed Twin‘), der beschreibt, wie das ideale Produkt aussehen soll – dementsprechend wird dann die Fertigung und Montage des realen Produkts ausgelegt. Im zweiten Schritt werden die Daten des realen Produkts zum virtuellen Fertigungszwilling (‚As Built Twin‘) zusammengefasst. „Dieser Fertigungszwilling entspricht nicht mehr haargenau dem Soll-Zwilling, sondern weicht in einigen Punkten davon ab, da er die Abweichungen aus Fertigung und Montage enthält“, schildert Engber.

Hat man beide Zwillinge in virtueller Form vorliegen, können die Abweichungen analysiert werden. So lässt sich ableiten, ob das fertige Produkt sowohl die hohen Anforderungen an Effizienz und Qualität, als auch eine kostengünstige Fertigung und Instandhaltung erlaubt. Im nächsten Schritt geht der ‚As Built Twin‘ in den Abnahmelauf und in die interne Validierung, danach in den „Flugbetrieb“: Die im Flugbetrieb auftretenden Abnutzungen und Beschädigungen stellen weitere Abweichungen dar und werden im sogenannten ‚As Used Twin‘ festgehalten.

„Jedes Triebwerk hat seine eigene, nachvollziehbare Lebensgeschichte, die sich im Laufe der Zeit immer individueller vom ursprünglichen Soll-Zwilling unterscheidet.“

Dr. Martin Engber

Chefingenieur Virtual Engine bei der MTU

Auf diese Weise ergibt sich im Laufe des Lebenszyklus‘ eines jeden Triebwerks eine Virtual Engine mit dem dazugehörigen digitalen Faden (Digital Thread): Das ist der Datenfluss über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts. „Jedes Triebwerk hat seine eigene, nachvollziehbare Lebensgeschichte, die sich im Laufe der Zeit immer individueller vom ursprünglichen Soll-Zwilling unterscheidet“, erklärt Engber. Die Summe aller Abweichungen und die damit verbundenen Daten erlauben schließlich Rückschlüsse darauf, wie sich ein Produkt in Zukunft verhalten wird. Die Triebwerksexpert:innen können dann sehen, wann eine Instandhaltung angebracht ist und wann ein Austausch von Teilen oder die Außerbetriebnahme ratsam wäre.

Immense Datenbestände zu verarbeiten

Solche Voraussagen basieren auf einer immensen Fülle an Daten und benötigen umfangreiche Modelle zu deren Auswertung. Das ist laut Engber eine große Herausforderung, „denn die Analytik, Konstruktion und Fertigung sowie der Betrieb haben jeweils eigene Datensysteme, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen, damit man jederzeit Zugriff auf alle relevante Daten hat.“ Hier spielt der digitale Faden eine wichtige Rolle als Summe aller Daten, der die einzelnen Phasen und Disziplinen miteinander verknüpft.

Dr. Anna Wawrzinek sieht drei entscheidende Faktoren, die hier in den kommenden Jahren zum Erfolg beitragen: „Das sind ein hoher Grad an Automatisierung bei der Aufnahme, Bereitstellung und Verarbeitung von Daten, ein hoher Grad an Vernetzung sowie interdisziplinäre Prozesse im Unternehmen und nicht zuletzt auch Künstliche Intelligenz. Sie kann helfen, dass die Prognosen und Analysen treffsicherer werden.“ Künstliche-Intelligenz-Anwendungen kommen derzeit in der Triebwerksentwicklung erst in Ansätzen vor, etwa bei der Strukturmechanik, wenn Eigenschwingungen von Bauteilen bewertet werden. Man erhoffe sich davon aber nach und nach mehr Erkenntnisgewinn und die Fähigkeit, komplexe Triebwerke zu analysieren und zu optimieren.

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Maßgeschneidertes Triebwerk dank Virtualisierung

Ein erstes MTU-Leuchtturmprojekt ist der digitale Zwilling für die Beschaufelung eines Verdichters. „Aerodynamik und Strukturmechanik sind antagonistisch – und müssen stets in Einklang gebracht werden“, informiert Engber. „Während etwa die Schaufeln im Interesse der Aerodynamik besonders scharfe, dünne Kanten aufweisen sollten, fordert die Strukturmechanik aus Gründen der Robustheit eher runde und dicke Bauelemente“, beschreibt er den Spagat, den die Entwickler:innen leisten müssen.

Deshalb habe man sich in der Verdichterbeschaufelung die Aerodynamik und Strukturmechanik als Schlüsselprozesse vorgenommen. Mittelfristig will die MTU damit die Produktauslegung beschleunigen und verbessern sowie Kosten sparen. Engber: „Wir werden schon bald in der Lage sein, automatisiert auf beliebige Zielgrößen hin zu optimieren und das für jeden Einsatzbereich geeignete Produkt zu entwickeln.“ Das Spannungsfeld der Optimierung besteht dabei immer wieder aus den technischen Anforderungen, wie zum Beispiel Wirkungsgrad und Gewicht, sowie den Herstell- und Instandhaltungskosten. Und natürlich muss das Produkt ausreichend robust sein.

Digitalen Faden nachvollziehen

Noch konzentriert man sich bei der MTU vor allem auf den Soll-Zwilling, also die Entwicklungsprozesse im Engineering und die Datentransparenz zwischen den Fach-Abteilungen. Mittelfristig soll der Schwerpunkt eher auf den Bereichen Fertigung und Betrieb liegen, also den Ist-Zwillingen. „Wir wollen ein Bild über den gesamten digitalen Faden erhalten – von der Entwicklung über die Fertigung und den Betrieb bis hin zur Außerbetriebnahme“, erklärt Engber. Dafür wurde Anfang 2024 ein eigenes Expertenteam bei der MTU gegründet, das in Zusammenarbeit mit den Fachabteilungen die Belange der Virtual Engine koordiniert und vorantreibt.

Tatkräftige Unterstützung erhält die MTU von Forschungseinrichtungen, wie dem Institut ‚Test und Simulation in der Gasturbine‘ des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum (DLR). Hier werden Neuerungen zunächst im Labormaßstab entwickelt und getestet, bevor sie in der Industrie zur Anwendung kommen.

Solche „End-to-end-Digitalisierungsanwendungen in der Entwicklung, Fertigung und Instandhaltung sind eine der größten Chancen für Unternehmen – und zugleich eine Herausforderung für die MTU-Triebwerksexpert:innen der verschiedenen Fachdisziplinen und Unternehmensbereiche, da sie ein Umdenken in der Arbeitsweise erfordern. „Wir müssen die Mitarbeiter:innen für das Potenzial der Digitalisierungsmethoden sensibilisieren, ihr digitales Mindset und datengetriebenes Denken stärken – kurzum: sie auf die digitale Reise mitnehmen,“ betont Wawrzinek. „Unterm Strich ist die Virtualisierung eines so komplexen Produkts, wie es ein Triebwerk darstellt, ohnehin eher eine Marathonaufgabe, bei der man sich in vielen kleinen Schritten an Verbesserungen herantastet.“ Bis zur Vision, das komplette Triebwerk und seine Funktionalitäten im Ganzen zu erfassen und in der virtuellen Welt abzubilden, ist es noch ein weiter Weg. „Aber wir sind unterwegs“, so Engber.

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