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Aeroderivate – die leichten, flexiblen Industriegasturbinen

Aeroderivate sind eine Klasse für sich: Die Industriegasturbinen sind kompakt, leicht und überzeugen mit Schnellstarter-Eigenschaften in der Energieerzeugung.

03.2024 | Autorin: Nicole Geffert | 7 Min. Lesezeit

Autorin:
Nicole Geffert arbeitet seit 1999 als freie Journalistin mit den Themen Forschung und Wissenschaft, Geld und Steuern, Ausbildung und Beruf.

Für ihren Job brauchen Matthias Witt und sein Team starke Nerven und eine solide Fitness. Denn wenn die MTU-Expert:innen für Industriegasturbinen (IGT) gerufen werden, kann die Reise auf windumtoste Ölplattformen in der Nordsee oder in den feuchtheißen Dschungel Brasiliens führen. Keine Frage, es gibt gemütlichere Arbeitsplätze auf der Welt, aber selten spannendere.

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Witt leitet die Bereiche Field Service und Package bei MTU Power, die Marke der MTU Aero Engines für Services und Leistungen im Bereich Industriegasturbinen. Ihr Herz schlägt in Ludwigsfelde, Standort der MTU Maintenance Berlin-Brandenburg. Dort ist seit 1995 die MTU-Expertise für Industriegasturbinen gebündelt. Betreut werden die Modelle der LM™-Baureihe des Herstellers GE Power (GE). Bis heute haben die MTU-Spezialist:innen mehr als 1.400 Shop Visits für die Industriegasturbinen vom Typ LM2500™ und LM6000™ geleistet – inklusive Vor-Ort-Services bei den Betreibern.

Ihre internationalen Kunden sind so vielfältig wie das Anwendungsspektrum: Stationäre Gasturbinen werden eingesetzt zur Energieversorgung, als Schiffsantrieb, für Pumpen und Kompressoren auf Ölplattformen und für Pipelines. „Die Nachfrage ist stabil hoch", sagt Henrik Harksen, bei der MTU für den Verkauf von IGT-Services zuständig. Der Bau neuer Terminals für Flüssigerdgas (LNG) und der Umstieg auf erneuerbare Energien wirken sich positiv auf das Geschäft aus. Auf den Meeren sind Fregatten, Kreuzfahrtschiffe und moderne Schnellfähren mit Turbinenpower unterwegs.

IGT-Services auf der ganzen Welt

Immer verfügbar: Egal ob Amerika, Asien oder Europa: Die IGT-Expert:innen der MTU Maintenance können ihren Kunden schnell und flexibel zur Seite stehen. Möglich machen dies Service Center in Deutschland (Ludwigsfelde), Brasilien (São Paulo), Australien (Perth), USA (Dallas), Thailand (Ayutthaya) und Norwegen (Mongstad).

Einsatz auf allen Kontinenten

„Wir haben Kunden auf allen Kontinenten“, sagt Harksen. Deshalb betreibt die MTU weltweit IGT-Service-Center. Zum Netzwerk gehören Standorte in Australien, Brasilien, Thailand und den USA. Die Field-Service-Teams sind binnen 24 Stunden an jedem Ort auf der Welt. Das ist vor allem dann entscheidend, wenn eine ungeplante Reparatur schnelles Handeln erfordert. Stillstand kostet Geld, von daher ist zuverlässiger Service wichtig.

Doch nicht jeder Einsatz ist ein Notfall: „Wir bieten auch planmäßige Instandhaltungsservices an", sagt Harksen. Nach rund 50.000 Betriebsstunden kommt eine Industriegasturbine zur Grundinstandhaltung in die Werkstatt, auch Shop genannt. Die IGT-Spezialist:innen der MTU verstehen ihren Job: von der Demontage über Reparaturen bis zur Montage, Installation und Inbetriebnahme. Hinzu kommen regelmäßige Inspektionen, Fernüberwachung und Schwingungsanalysen, technische Beratung und Kundenschulungen.

Bei der MTU in Ludwigsfelde steht auch einer der modernsten und größten IGT-Prüfstände der Welt. „Wenn der Betreiber während des Shop Visits eine Ersatzgasturbine benötigt, um einen reibungslosen Betrieb sicherzustellen, können wir mit einer Leasing-IGT weiterhelfen“, sagt Harksen.

Das Know-how der MTU-Expert:innen ist auch gefragt, wenn es um Services für „Packages“ geht. So wird das Gesamtsystem einer Gasturbine genannt, das sämtliche Komponenten umfasst, wie elektrische Generatoren, Regel-, Luft-, Öl- und Feuerlöschsysteme, die Kraftstoffversorgung, eventuell eine Wassereinspritzung zur Stickoxid-Reduzierung sowie andere Komponenten. Witt und sein Team haben beispielsweise ein Gaskraftwerk eines Energieversorgers im Urwald von Manaus in Brasilien komplett umgerüstet – bei 40 Grad Celsius, 95 Prozent Luftfeuchtigkeit und sintflutartigen Regengüssen. Das Resultat: ein zufriedener Kunde und ein erfolgreiches Upgrade einer LM6000.

Ein Einsatz der besonderen Art

Myanmar ist seit einem Militärputsch im Februar 2021 ein Land im erklärten Ausnahmezustand. Gelegen in Südostasien, grenzt der Staat an Thailand, Laos, China, Indien und Bangladesch. Unter strengen Sicherheitsauflagen hat dort im vergangenen Jahr ein Team aus Field- Service-Technikern des thailändischen MTU Maintenance Service Centers Ayutthaya, des MTU Maintenance Service Centre Australia sowie der MTU Maintenance Berlin-Brandenburg gemeinsam einen Einsatz durchgeführt.

Arbeitsplatz war ein Kraftwerk in Yangon (ehemals Rangun). Fünfzig Prozent der gesamten Energieversorgung der Stadt laufen darüber – dementsprechend war der Druck hoch. Möglich sind diese Einsätze nur, wenn es eine interne Reisefreigabe der MTU – basierend auf der Sicherheitslage — gibt und sich Freiwillige finden. Denn die Sicherheit der Mitarbeiter steht immer im Vordergrund.

Während der Regenzeit, bei extremer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit meisterte das Team in fünfzehn Tagen so manche Widrigkeit, um den Strom nach Yangon zurückzubringen. „Durch einen Erdrutsch in Myanmar auf dem Weg zur Anlage musste alles Material vom großen Laster auf kleine Pickups verladen und durch den Dschungel gefahren werden. Unseren ersten Tag haben wir damit verbracht, das verschmutzte und teils beschädigte Werkzeug zu säubern, zu sortieren und wieder funktionsfähig zu bekommen“, erzählt Marvin Kuhlbrodt, Field Service Mechaniker bei der MTU Maintenance Berlin-Brandenburg.

Es folgte der Ausbau der IGT, die über Umwege auf Grund eines kreuzenden Flusses, zum Workshop auf der Anlage gefahren wurde. Trotz der Umstände gelang dem Team an der Niederdruckturbine „eine der größtmöglichen Reparaturen, die außerhalb des Shops durchführbar sind“, so Kuhlbrodt. Dazu waren auch weitere Ersatzteile aus Deutschland nötig, die innerhalb von fünf Tagen zunächst per Luftfracht nach Bangkok versendet und dann per Kurier in den Workshop geliefert wurden.

Von Flugtriebwerken abgeleitet

Industriegasturbinen werden in Leistungsklassen unterteilt. Die LM-Baureihe ist von verschiedenen Versionen der CF6-Flugtriebwerke abgeleitet, die etwa an der Boeing 747 zum Einsatz kommen. Aeroderivate werden diese Gasturbinen genannt, die zur leichten Bauart der Industriegasturbinen gehören. Sie funktionieren nach dem gleichen Prinzip wie ihre fliegenden Verwandten. Im Vergleich zum Flugtriebwerk haben sie aber keine Fans, genutzt wird die Rotationsenergie, die dann in elektrische Energie oder mechanischen Antrieb umgewandelt wird.

Grundverschieden zur Luftfahrtbranche sind die Kundenstrukturen. „Der IGT-Markt ist stark fragmentiert“, sagt Daniel Giesecke, Experte für Strategie- und Marktanalysen bei der MTU Aero Engines. „Während Fluggesellschaften oft Dutzende baugleicher Triebwerke ordern, kaufen IGT-Kunden meist nur ein Exemplar oder wenige Gasturbinen.“

Seit 1981 wird die LM2500 bei der MTU instand gehalten. Sie ist die am weitesten verbreitete Gasturbine in der Leistungsklasse von 20 bis 25 Megawatt. Die leistungsgesteigerten Versionen erzielen bis nahezu 37 Megawatt. Mehr als die Hälfte dieser Kraftpakete kommt in der Öl- und Gasindustrie zum Einsatz.

Die „große Schwester“, die LM6000, wird mit einer Leistung von bis zu 54 Megawatt zu rund 90 Prozent in der Stromerzeugung verwendet. Beide Aeroderivate zeichnen sich durch einen hohen Wirkungsgrad von mehr als 40 Prozent aus. Sie sind leicht, kompakt und effizient. Im Vergleich dazu werden Heavy-Duty-Turbinen der schweren Bauart zugeordnet. Diese Turbinen sind speziell für den stationären Dauerbetrieb in großen Kraftwerken konzipiert und erzielen eine Leistung bis zu 340 Megawatt.

Unter Kontrolle

Nach rund 50.000 Betriebsstunden kommt eine Industriegasturbine zur Grundinstandhaltung in den sogenannten Shop. Hinzu kommen regelmäßige Inspektionen, Fernüberwachung, technische Beratung und Kundenschulungen.

LM6000

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Die Industriegasturbine LM6000™ ist vom GE-Flugtriebwerk CF6-80 abgeleitet. Sie findet hauptsächlich in der Stromerzeugung Anwendung, kann aber auch als direkter mechanischer Antrieb von zum Beispiel Pumpen eingesetzt werden. Seit 1996 wird dieser Gasturbinentyp von der MTU Maintenance betreut.

LM2500

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Die LM2500™ ist eine Industriegasturbine von GE und basiert auf dem zivilen Flugzeugtriebwerk CF6-6. Seit 1981 wird sie bei der MTU instand gehalten. Im Gegensatz zu dem Baumuster LM6000™ weist die LM2500™ einen Gaserzeuger mit einem Rotor auf, welcher aerodynamisch an eine Nutzturbine gekoppelt werden kann.

Schnellstarter-Eigenschaften

Allerdings sind Heavy-Duty-Turbinen nicht so flexibel wie Aeroderivate, die in der Energieerzeugung nicht mehr wegzudenken sind. „Aeroderivate können schnell hoch- und runtergefahren werden, um so auf Schwankungen in der Stromnachfrage zu reagieren“, sagt Giesecke. „Damit spielen sie gerade in Zeiten, in denen der Anteil erneuerbarer Energien wächst, eine wichtige Rolle.“

Da mal mehr, mal weniger Wind weht und die Sonne auch nicht immer scheint, müssen Stromnetze mit Erzeugungsmengen umgehen können, die nie einer konstanten Last entsprechen. Besonders kritisch sind sogenannte Dunkelflauten, wenn es weder windig noch sonnig ist. „Um eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten, werden Peaker-Kraftwerke benötigt“, sagt Giesecke. „Peaker werden bei hohem Strombedarf, dem sogenannten Spitzenbedarf, eingeschaltet. Hierfür sind Aeroderivate mit ihren Schnellstarter-Eigenschaften bestens geeignet.“ In nur wenigen Minuten lassen sich die LM2500 und die LM6000 auf Maximalleistung hochfahren und liefern Strom quasi auf Knopfdruck.

Langfristige Serviceverträge

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MTU Power bietet auch umfangreiche Vor-Ort-Kapazitäten, planmäßige und vorbeugende Instandhaltung. Die Dienstleistungen reichen von der Demontage, Installation und Inbetriebnahme über Reparaturen vor Ort, regelmäßige Inspektionen, Fernüberwachung und Schwingungsanalyse bis hin zu technischer Beratung und Kundenschulung für Gasturbinen der Serien LM2500 und LM6000.

Das zeigt ihre Verwandtschaft zu Flugtriebwerken, die beim Start maximale Schubkraft erreichen müssen. „Peaker-Kraftwerke werden als Ergänzung zu Grundlastkraftwerken eingesetzt, die Strom und auch Fernwärme konstant liefern, aber weniger flexibel sind“, sagt Giesecke. Da sie nicht im Dauereinsatz sind, kommen „Peaker“ auf maximal 1.000 Betriebsstunden im Jahr. Bis zu 30 Jahre können diese Industriegasturbinen im Einsatz sein.

Wasserstofffähige Gaskraftwerke

Auch die Zukunft der Industriegasturbinen ist eng gekoppelt mit dem Ziel der Dekarbonisierung. Um CO₂-Emissionen in der Energieversorgung zu reduzieren, soll zunehmend Wasserstoff als alternativer Brennstoff eingesetzt werden. Wasserstofffähige Gaskraftwerke sind im Kommen – teils werden sie neu gebaut, teils umgerüstet. Sie sollen immer dann eine sichere Stromversorgung gewährleisten, wenn Wind und Sonne gerade pausieren. Giesecke: „Solange wir einen Engpass bei der Wasserstoffversorgung haben, soll Wasserstoff zukünftig mit Erdgas gemischt und verbrannt werden, um Industriegasturbinen anzutreiben“.

Ob die Umstellung auf hundert Prozent Wasserstoff gelingt, hängt auch davon ab, ob künftig ausreichend klimaneutraler Wasserstoff zur Verfügung steht. Diese Herausforderung teilt die IGT-Branche mit der Luftfahrt, die auf dem Weg zum emissionsfreien Fliegen auf nachhaltige Kraftstoffe und ebenfalls „grünen“ Wasserstoff setzt.

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