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Boom am Himmel über Indien: Der Subkontinent hebt ab

Indien ist jetzt das bevölkerungsreichste Land der Welt. Die Luftfahrtbranche versucht mit Flugzeug-Großbestellungen aufzuholen, weil der Markt nirgendwo stärker wächst.

11.2023 | Autor: Andreas Spaeth | 6 Min. Lesezeit

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Andreas Spaeth ist seit über 25 Jahren als freier Luftfahrtjournalist in aller Welt unterwegs, um Airlines und Flughäfen zu besuchen und über sie zu berichten. Bei aktuellen Anlässen ist er ein gefragter Interviewpartner in Hörfunk und Fernsehen.

Der erste Tag der Pariser Luftfahrtschau im Juni 2023 war zugleich der wichtigste, zumindest aus der Sicht der Flugzeughersteller. Nach monatelanger Spekulation setzte das Management von IndiGo, Marktführer bei Inlandsflügen auf dem Subkontinent, tatsächlich seine Unterschriften unter den Rekordauftrag an Airbus: „500 Festbestellungen auf einmal hat es noch nie gegeben“, sagte sichtlich ergriffen Pieter Elbers, der niederländische CEO der Airline. Diese Anzahl von Jets der A320neo-Familie erhält IndiGo ab 2030, denn noch vorher kommen bereits rund 480 neue Airbus-Jets aus früheren Bestellungen. „Die Flugzeuge dienen dem Wachstum und als Ersatz für ältere Maschinen“, erklärte Elbers.

IndiGo ist ein Phänomen. Sie wurde erst 2006 von den beiden Branchenveteranen Rahul Bhatia und dem indisch-amerikanischen Milliardär und früheren Chef von US Airways, Rakesh Gangwal, gegründet. Heute fliegt sie täglich über 1.800 Verbindungen zu 78 Zielen in Indien, „das macht uns jetzt schon zur siebtgrößten Airline der Welt“, so Elbers. Schon bisher hatte die hochprofitable, effiziente IndiGo für Bestellrekorde gesorgt. Sie ist aktuell der weltgrößte Betreiber von Jets der Airbus A320neo-Familie. Die Rekordbestellung in Paris hat die Gesamtzahl der jemals von IndiGo bestellten Airbus-Flugzeuge auf unglaubliche 1.330 ansteigen lassen, innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten.

IndiGo – der Großbesteller

Betriebsaufnahme: 4. August 2006
Marktanteil Inland Mai 2023: 61%
Flugzeugbestellungen:
-2005: 100 Airbus A320-200
-2011: 180 Airbus A320-200
-2015: 250 Airbus A320neo-Familie
-2019: 300 Airbus A320neo-Familie
-2023: 500 Airbus A320neo-Familie
Jet-Flotte Anfang 2023: 268
(25 x A320, 176 x A320neo, 94 x A321neo)

IndiGo ist ein Wachstumsphänomen und steigt in den Langstreckenmarkt ein

Mit zwei von Turkish Airlines geleasten Boeing 777-300ER steigt IndiGo aktuell auch in den Langstreckenmarkt mit Großraumflugzeugen ein, zunächst fliegen sie von Delhi und Mumbai nach Istanbul. Branchenkreise gehen davon aus, dass IndiGo demnächst eigene Boeing 787 bestellen könnte. „Das spektakuläre Wachstum und die ambitionierten Bestellungen durch IndiGo haben dabei geholfen, Indien von Platz 13 der wichtigsten Luftverkehrsmärkte der Welt bereits auf Platz drei zu bringen“, sagt Mike Malik von der Luftfahrt-Datenanalysefirma Cirium.

Bisher kamen die größten Flugzeugbestellungen der Welt aus den USA, auch China war stets für Milliarden-Aufträge bei Airbus und Boeing gut. Seit Februar 2023 allerdings steht Indien ganz vorn. Die Absichtserklärungen zum Kauf insgesamt 470 neuer Jets gegenüber beiden großen Herstellern durch die jüngst privatisierte Air India war ein Meilenstein. Plus Leasingabkommen über 36 weitere Flugzeuge, um den Sofortbedarf zu decken, das bedeutete damals schon einen neuen Branchenrekord. Air India CEO Campbell Wilson hat ebenfalls in Paris die Kaufverträge unterschrieben, die ersten neuen Flugzeuge des Typs Airbus A350 kommen bereits im Herbst 2023. Und auch Air India will mehr: „Wir werden weitere Bestellungen aufgeben. Bis alle 470 jetzt georderten Flugzeuge bei uns eintreffen dauert es noch ziemlich lange, aber so lange warten wir nicht mit unserer nächsten Bestellung“, so Wilson.

Air India: Fahren Sie über das Bild für eine größere Ansicht

Air India: Die Airline ist eine nationale Fluggesellschaft Indiens mit Hauptsitz in Neu-Delhi.

Indigo: Fahren Sie über das Bild für eine größere Ansicht

Indigo: IndiGo Airlines wurde Anfang 2006 von Rahul Bhatia sowie Rakesh Gangwal gegründet.

Indiens riesiger Nachholbedarf an Flugzeugen

Warum aber braucht Indien plötzlich so viele Flugzeuge? Die kurze Antwort ist verblüffend einfach: Weil Indien inzwischen das Land mit der größten Bevölkerung der Welt ist. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IMF) liegt der Subkontinent nun mit 1,42 Milliarden Menschen vor China (1,4 Milliarden Einwohner). Gleichzeitig ist die indische Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren sehr jung, was demografisch gesehen viel höhere Nachfrage verspricht. Nicht zuletzt deswegen ist die Wirtschaft in Indien auf stetigem Wachstumskurs. „Indien ist ein gewaltiger Wachstumsmarkt. Wenn wir sehen, wie viele Menschen heute in China fliegen, wird das auf das Gleiche oder noch mehr auch in Indien hinauslaufen“, sagt Marko Niffka, Director Business Development bei der MTU Aero Engines. „Ich habe bis 2012 für die MTU den Markt Indien betreut, seitdem ist der Wettbewerb dort reifer geworden, was man schon an der Konsolidierung unter den Airlines sieht.“

Vor allem hat Indien ein riesiges unerschlossenes Potenzial an Flugpassagieren, nur vier Prozent der Bevölkerung sind bisher überhaupt geflogen. Das lag an zu hohen Flugpreisen und oft gerade in ländlichen Gebieten fehlenden Flughäfen und Verbindungen. Nachdem die indische Regierung den Luftfahrtsektor in vielen Bereichen liberalisiert hat, konnte sich der aktuelle Boom ungehinderter entwickeln.

Mobilität findet in Indien bisher häufig per Eisenbahn, vor allem aber durch Busse statt, die für erhebliche Emissionen verantwortlich sind. Moderne Flugzeuge wie die A320neo hingegen stoßen pro Kilometer und Kopf weniger Schadstoffe aus. Natürlich bedeuten größere Luftflotten insgesamt auch wachsende Emissionen durch die indische Luftfahrt. Aber ein höherer Anteil an Flugreisenden bewirkt auf der Gegenseite auch, dass weniger veraltete Busse fahren. IndiGo hat zudem angekündigt, ihre älteren A320ceo durch neue A320neo zu ersetzen.

Der indische Luftfahrtmarkt in Zahlen

1 , 42
Mrd.

Einwohner

(China 1,40 Mrd.)

28
Jahre

Durchschnittsalter

(China 39 Jahre)

4
%

Flugreisende in Prozent der Bevölkerung

148

Flughäfen

(China 248)

168
Mio.

Passagiere 2019

(China knapp 660 Mio.)

1.1
Mrd.

Passagiervorhersage 2040

Anzahl aktiver Flugzeuge Airbus/Boeing 2022: 664 (China: 4.044)
Anzahl aktiver Flugzeuge Airbus/Boeing Ende 2023: 816
Flugzeuge bis 2030: über 2.000
Auszuliefernde Bestellungen: ca. 2.200 (für Orders bis Juni 2023)

Zu wenige Flughäfen auf dem Subkontinent

Ein Grund für die bisher geringere Rolle des Luftverkehrs war, dass das riesige Land bisher in vielen Regionen keine Flughäfen hatte oder jene in kleineren Städten zu wenig Anbindung an den Luftverkehr. Hier versucht ein Förderprogramm der Regierung Verbesserungen zu schaffen, das Strecken in die Provinz und den Flughafenbau abseits der Zentren subventioniert. Auch wenn Mumbai als eines der wichtigsten indischen Drehkreuze weiter mit einer einzigen Piste auskommen muss, ist die Zahl der Flughäfen im Land in den vergangenen neun Jahren von 74 auf 147 gestiegen. Weitere 80 sollen in den nächsten fünf Jahren den Betrieb aufnehmen.

Schon Ende der 2030er-Jahre könnte Indien nach Branchenschätzungen der zweitgrößte Luftverkehrsmarkt der Welt hinter den USA und vor China sein. Und in etwa zwei Jahrzehnten vielleicht sogar den heute führenden US-Markt überholen. Zwischen 2010 und 2019 ist die Gesamtzahl der Passagiere innerhalb und von/nach Indien von rund 65 auf 168 Millionen jährlich gestiegen. Bis 2040 plant die indische Regierung eine Versechsfachung auf etwa 1,1 Milliarden. „Wir werden in den kommenden Jahren eine Explosion des Luftverkehrs erleben“, kündigte Luftfahrtminister Jyotiraditya Scindia an.

Kalkutta, Indien: Der internationale Flughafen ist ein wichtiges Drehkreuz für Nordostindien, Bangladesch, Bhutan, China und Südostasien.

Indien braucht vor allem eins: Flugzeuge

Um aufzuholen, braucht Indien vor allem Flugzeuge. Bisher gibt es im ganzen Land gerade mal etwas über 700 davon. Verschwindend wenige im Vergleich etwa zu den USA – allein American Airlines als eine der großen drei Airlines betreibt über 900. Bis 2038, so prophezeit es Boeing, werden in Indien 2.380 neue Flugzeuge benötigt. Die Regierung verlangt unterdessen immer vernehmlicher, dass Airbus und Boeing auch in Indien Endmontagelinien errichten, so wie es Airbus etwa im chinesischen Tianjin macht.

Die schwierigen lokalen Rahmenbedingungen etwa bei Steuerpolitik und Bürokratie seien bisher ein Hemmschuh, obwohl die Regierung bereits Maßnahmen zur Verbesserung ergriffen habe. Dabei ist gerade der Bereich MRO auf dem Subkontinent wichtiger als anderswo: „In Indien müssen aufgrund der Luftverschmutzung und hoher Temperaturen auch die Triebwerke neuer Flugzeuge früher in die Instandhaltung als etwa in Nordeuropa“, erklärt Niffka. Klar ist, dass die wesentliche Dynamik im globalen Luftverkehrsmarkt derzeit aus Delhi, Mumbai oder Bangalore kommt und alle Anbieter sich darauf einstellen werden.

Triebwerks-Überholung in Indien

„Fliegen hat für viele Inder inzwischen eine Bedeutung wie bei uns der Nahverkehr, das ist dort ein alltägliches Transportmittel,“ sagt Florian Rietmann, Sales Director Asien bei der MTU Maintenance. Die Umweltbedingungen kombiniert mit der hohen Nutzung führt zu einem hohen MRO Bedarf. Bis heute findet ein Großteil der Triebwerks-MRO für indische Airlines jedoch noch außerhalb des Subkontinents statt.

„Erst jetzt beginnt langsam vor Ort die Planung von weiteren Instandhaltungsbetrieben“, so Rietmann. Das habe für die indische Regierung hohe Priorität: „Indien möchte generell Maintenance, Repair & Overhaul (MRO) im Land stärken, da bisher 90 Prozent dieser Leistungen im Ausland passieren. Damit bleibt dem Land sowohl das Know-how vorenthalten, aber auch logistisch kann das ein Problem sein, etwa als die Frachtkosten während der Pandemie extrem anstiegen“, so Rietmann. „Außerdem wird erwartet, dass diese Leistungen vor allem wegen der großen Flugzeugbestellungen in Zukunft signifikant zunehmen und – da in US-Dollar abgerechnet - ein Handelsbilanzdefizit in Indien verursachen könnten. Neben der klassischen Triebwerksreparatur steigt somit auch das Interesse für weitere Services aus unserem Portfolio, wie etwa das Triebwerksleasing, Beratung bei der Wartungsplanung sowie diverse Asset Management-Lösungen“, setzt er fort.

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