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Die neuesten Trends für die Flugzeugkabine
Die Flugzeugkabine zu gestalten ist ein anspruchsvolles Puzzlespiel für Designer und Hersteller. Was hier eingebaut wird soll leicht, effizient, manchmal luxuriös und immer nachhaltig sein.
11.2022 | Autor: Andreas Spaeth | 4 Min. Lesezeit
Autor:
Andreas Spaeth
ist seit über 25 Jahren als freier Luftfahrtjournalist in aller Welt unterwegs, um Airlines und Flughäfen zu besuchen und über sie zu berichten. Bei aktuellen Anlässen ist er ein gefragter Interviewpartner in Hörfunk und Fernsehen.
©Crystal Cabin Award
Kaum ein kreativer Schaffensprozess ist so komplex wie die Gestaltung von Flugzeugkabinen. Der Kabinenboden eines Passagierflugzeugs dürfte zur teuersten Fläche der Welt gehören, jeder Quadratzentimeter ist kostbar. Denn der hier zur Verfügung stehende Platz lässt sich nicht beliebig vergrößern und Fluggesellschaften sind darauf angewiesen, eine Formel für ihre Flugzeugausstattung zu finden, die sowohl die Kundenwünsche bedient, aber gleichzeitig den Betreiber auch wirtschaftlich auf seine Kosten kommen lässt. Und dazu gehört neuerdings vor allem, dass das Flugzeug selbst, aber auch die Einbauten in seinem Inneren nachhaltig sind. Für Designer ist das ein enorm anspruchsvolles Puzzlespiel, bei dem sie sehr vielen Zwängen unterworfen sind und nur selten kühne Ideen umsetzen können. Einmal im Jahr trifft sich die Kabinenbranche auf der Fachmesse Aircraft Interiors Expo (AIX) in Hamburg.
Einer der Stammgäste ist der italienische Ingenieur Gaetano Perugini vom Hersteller Aviointeriors, und er glänzt oft mit ausgefallenen Lösungen. Auf der diesjährigen AIX im Juni 2022 präsentierte er am Stand seiner Firma wieder einige Hingucker, darunter das Modell Triangle. Hier ist der Mittelsitz einer Economy-Dreierreihe immer um die Hälfte weiter nach vorn versetzt, „das ist ideal für Abstand und die Ellbogenfreiheit aller“, sagt Perugini und demonstriert das Besuchern persönlich bei der gemeinsamen Sitzprobe. Um in den Mittelsitz hineinzukommen ist der nach vorn ragende Teil der Sitzfläche hochklappbar, die Nachbarn sind zusätzlich durch seitlich in Ohrenhöhe nach vorn ragende Kopfteile voneinander abgeteilt.
Sehr optimistisch ist der Italiener allerdings nicht, dass Airlines zugreifen werden – schließlich tun sie sich traditionell schwer mit allen Kabinen-Innovationen. „Das sind alles Ideen für die Diskussion“, sagt auch der bei Virgin Atlantic Airways für das Kundenerlebnis zuständige Anthony Woodman. Dabei wären Verbesserungen gerade dort, wo die riesige Mehrheit der Kunden unterwegs ist, dringend nötig. „Die Passagiererfahrung in der Economy Class ist über die gesamte Branche grenzwertig“, spricht es Matt Round deutlich aus, der Chef-Kreative der Londoner Designagentur Tangerine.
Im Fokus: weniger Gewicht
Derzeit zählt vor allem Leichtbauweise in der Economy Class, denn weniger Gewicht an Bord bedeutet weniger Spritverbrauch und weniger Emissionen. „Das ist weiter der große Trend, unser leichtester Economy-Sitz für Mittelstrecken wiegt jetzt pro Passagier achteinhalb Kilogramm, das sind 25 Prozent weniger als die Vorgängergeneration“, sagt Mark Hiller, Chef des deutschen Sitzebauers Recaro, Weltmarktführer im Economy-Segment. Auf der Langstrecke bringt der leichteste Sitz aktuell noch 12 statt vorher 13,5 Kilo auf die Waage, unter anderem neue Materialien wie Titan, Kohlefaser-Verbundwerkstoffe und neue Magnesium-Legierungen machen das möglich. Auch neue biegsame, dünne OLED-Bildschirme sind eine gute Einsparmöglichkeit für viele Kilogramm.
„Genauso wichtig ist, einzelne Materialien oder ganze Sitze zu recyclen, aber das ist gerade bei Kohlefaser schwierig“, weiß Hiller. Deshalb schaut sich die Branche derzeit auch nach neuen Ideen um, wie Sitzbezüge umweltschonender herzustellen sind. „Es gibt neue, nachhaltige Materialien wie veganes Kakteenleder oder Pilzleder, das aus nachwachsenden Rohstoffen besteht und wie Kakteen auch kein Wasser verbraucht“, sagt Matthew Nicholls vom Textilanbieter Tapis. „Die Frage ist, kann man die Produktion entsprechend hochfahren, um es im großen Stil kommerziell zu nutzen“?
Mehr Komfort für die neuen Langstrecken-Jets
Der neueste Trend in der Business Class auf Langstrecken allerdings läuft dem Streben nach Leichtigkeit zuwider: „Schiebetüren für die Privatsphäre in den Abteilen sind jetzt Standard bei High-End-Produkten“, sagt Vincent Mascré, Chef von Safran Seats. „Die Passagiere erwarten das, aber es sorgt leider auch für zusätzliche Komplexität und Gewicht“ – acht bis zehn Kilo pro Sitz für eine Schiebetür und allem was dazugehört. Seit kurzer Zeit dringen erstmals auch Schmalrumpf-Flugzeuge auf den Langstreckenmarkt, allen voran der Airbus A321XLR, der während der AIX im Juni ebenfalls in Hamburg seinen Erstflug feierte.
Und in diese zuvor Mittelstrecken vorbehaltene Jet-Klasse halten jetzt üppige Premium-Produkte Einzug. Derzeit liefern sich die Kabinen-Hersteller ein Wettrennen, ihre eigentlich für Großraumflugzeuge konzipierten Luxus-Abteile auch für kleinere Jets zu adaptieren. Das klappt erstaunlich gut, inklusive Schiebetür. Wie heute schon die US-Gesellschaft JetBlue auf Transatlantikstrecken mit einer A321LR, werden künftig viele Airlines die erste Reihe in den Schmalrumpf-Jets mit zwei Suiten bestücken, die zuweilen mehr Platz bieten, als Suiten in den bereits fliegenden Widebody-Jets. Die Sitzbranche kann und muss eben flexibel sein – und vermutlich sitzt Gaetano Perugini auch bereits in seinem Büro in Neapel und tüftelt dafür an neuen Lösungen.