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Mit GelSight misst die MTU selbst kleine Schönheitsfehler

Die MTU erkennt und dokumentiert mit dem GelSight-Messgerät selbst kleine Schönheitsfehler und beschleunigt dadurch die Triebwerksmontage.

03.2023 | Autor: Tobias Weidemann | 5 Min. Lesezeit

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Tobias Weidemann ist seit mehr als 20 Jahren als Journalist und Content-Berater tätig. Er berichtet über Technik- und Wirtschaftsthemen, oft mit Schwerpunkt auf Business-IT, Digitalisierung und Zukunftstechnologien.

Der Kopf des Oberflächenmessgerätes gleitet während einer Triebwerksendmontage über ein Bauteil. Da ist ein kleiner Kratzer, mit dem bloßen Auge zwar zu sehen, aber nur schwer zu beschreiben – und vor allem zu bewerten. Die Erfahrung und das Bauchgefühl der routinierten MTU-Triebwerksexpert:innen sind zwar ein gutes Indiz, reichen aber für die zuverlässige Bewertung allein nicht aus. Ist es lediglich ein kleiner Schönheitsfehler, eine Werkzeugspur an einem Bauteil oder könnte das irgendwann funktionale Auswirkungen haben oder Schäden verursachen? Und damit verbunden: Muss das Teil ausgetauscht werden und verzögert dies die Montage des Triebwerks, das aus mehreren tausend Bauteilen besteht?

All das sind Fragen, für die die Monteur:innen der MTU Aero Engines in der Vergangenheit einen Abdruck des Bauteils erstellen mussten, der dann zur Analyse ins Messlabor gebracht wurde. Dort wurde die Auffälligkeit vermessen und ein Report erstellt, aus dem die Fachabteilung eine Entscheidung abgeleitet hat. Parallel wurde der Schadensbericht für die Dokumentation aufbewahrt. Alternativ wurde das Bauteil auf Verdacht vorsichtshalber gleich ausgetauscht, was weder im Hinblick auf Kosten noch auf Nachhaltigkeit sinnvoll war.

Keine Montageverzögerung: Julian Mandel und Carmen Pomp fanden mit GelSight ein Messverfahren, dass die Triebwerksmontage erheblich effizienter gestaltet.

So oder so führte dies zu einer erheblichen Montageverzögerung und setzte voraus, dass überhaupt für den Austausch ein Ersatzteil verfügbar war. Außerdem war das Triebwerk eventuell schon auf dem Prüfstand und ein Retest wurde somit durch den Tausch notwendig. „All das dauerte oft einige Zeit – und wenn wir Pech hatten, musste die Montage eines kompletten Triebwerks so lange warten, bis die Messergebnisse vorlagen und wir Klarheit darüber hatten, ob das Teil verbaut bleiben kann oder nicht“, erklärt Carmen Pomp von der MTU in München. „Schon das Zurückstellen des jeweiligen Triebwerks oder Ermöglichen des Bauteiltausches war eine Herausforderung für die Kolleg:innen in der Montage.“

Vermessung von Oberflächen: Das mobile handliche Messgerät wird an die zu untersuchende Stelle am Triebwerk angedrückt. Auch schwerer erreichbare Bereiche können damit analysiert werden.

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Ein rundes Elastomer-Gel-Pad mit knapp zwei Zentimeter Durchmesser erzeugt einen Positivabdruck von der zu messenden Stelle.

Neues Messgerät vermisst Oberflächenstrukturen akkurat

Genau hier schafft das 3D-Oberflächenmessgerät mit dem Namen GelSight Mobile™ Abhilfe, das Pomp gemeinsam mit Kolleg:innen unterschiedlicher Fachabteilungen als Innovation in der PW1100G-JM-Endmontage mit eingeführt hat: Das hochauflösende Messgerät kann mit Hilfe eines handelsüblichen Notebooks oder Tablets und der entsprechenden Software die Oberfläche von Strukturen vermessen. Es lässt sich bei größeren Teilen so auch einfach zur Baugruppe transportieren und kann im Interesse des Datenschutzes auch unabhängig vom Firmennetzwerk betrieben werden. Außerdem lässt sich so mit wenigen Klicks der Grad an Abweichung von der Norm dokumentieren. Dadurch werden Entscheidungsprozesse deutlich beschleunigt und zeitliche Abläufe verkürzt.

An der Spitze des Stifts, der an ein medizinisches Ultraschallmessgerät erinnert, befindet sich ein rundes Elastomer-Gel-Pad mit knapp zwei Zentimetern Durchmesser. Das schmiegt sich bei leichtem Andrücken an die jeweilige Oberfläche des zu begutachtenden Bauteils, verformt sich mit dieser und erzeugt so einen Positivabdruck der zu messenden Stelle. Das funktioniert mit einer Vielzahl von Materialien, egal ob glänzend oder matt, Metall oder Kunststoff. Auch detaillierte Strukturen und Texturen lassen sich so erfassen und untersuchen. Im Vergleich zu anderen optischen Messsystemen können die MTUler:innen damit sehr schnell einen mehrere Quadratzentimeter großen Messbereich erfassen.

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Mit Hilfe von sechs im Stift angebrachten nacheinander aufleuchtenden LEDs entstehen innerhalb weniger Sekunden sechs unterschiedlich belichtete Einzelbilder aus unterschiedlichen Perspektiven.

Dabei entstehen mit Hilfe von sechs im Stift angebrachten nacheinander aufleuchtenden LEDs innerhalb weniger Sekunden sechs unterschiedlich belichtete Einzelbilder aus unterschiedlichen Perspektiven. Ein Algorithmus rechnet sämtliche Farben und Transparenzen sowie Reflektionen und Blendungen heraus und schafft so ein dreidimensionales Abbild der Struktur. Diese, auf die reine Form reduzierte Ansicht bietet nämlich deutlich bessere Einblicke als ein herkömmliches Mikroskop. Zudem lässt sich das Bild mit überschaubarer grafischer Rechenleistung drehen, kippen und aus allen Perspektiven begutachten. Die so gewonnenen Daten können in standardisierter Form in anderen Software-Programmen weiterverarbeitet werden.

Auf Wunsch kann auch ein bestimmtes Soll-Oberflächenniveau definiert werden, um eine Abweichung oder Beule messtechnisch akkurat zu erfassen. „Bei einem Kratzer vermisst das System etwa die höchste und tiefste Stelle in einem definierten Bereich“, erklärt Julian Mandel, der ebenfalls die Einführung des GelSight-Systems bei der MTU vorangetrieben hat. Die Genauigkeit der Vermessung liegt dabei im einstelligen Mikrometerbereich und bewegt sich zwischen gerade einmal vier (axial) und acht Mikrometern (lateral). „Das ist ungefähr die Dicke eines menschlichen Haars, was für unsere Anforderungen vollkommen ausreichend ist“, beschreibt Mandel die Größenordnung.

Extra-Kalibrierprozedur implementiert

Eine besondere Herausforderung war die messtechnische Zulassung des Systems bei der MTU. Um die strengen Anforderungen der Triebwerksfertigung zu erfüllen, musste das Messgerät einen umfangreichen Zertifizierungsprozess nach strengen internationalen Vorgaben der Produktionspartner durchlaufen. „Entscheidend ist, dass GelSight zuverlässig und reproduzierbar stets dieselben Messergebnisse produziert“, erklärt Stefan Necker, Experte für Geometrische Messtechnik. „Das Messteam hat hier in Kooperation mit der Kalibrierabteilung der MTU eine adäquate Lösung gefunden. Eine besondere Herausforderung für den Geräte-Hersteller, das US-amerikanische Start-up-Unternehmen GelSight, war die Integration einer Kalibrierprozedur – eine Grundvoraussetzung für Messsysteme in der Triebwerkswelt.“

„In unserer Zusammenarbeit mit der MTU haben wir gezeigt, dass unsere taktile Sensortechnologie für die Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle in der Luft- und Raumfahrt eingesetzt werden kann. Sie trägt dazu bei, diese Prozesse zu automatisieren, zu standardisieren und deutlich zu beschleunigen.“

Youssef Benmokhtar

CEO von GelSight

Das junge Unternehmen aus Boston ist im Umfeld des Massachusetts Institute of Technology (MIT) entstanden und befasst sich neben der taktilen Bildgebung auch mit taktiler Sensortechnologie, also etwa der Frage, mit welcher Kraft ein Roboter optimalerweise ein Bauteil zur Bearbeitung greift oder fixiert.

Um die hohen Sicherheitsstandards in der Luftfahrt zu erfüllen, mussten Triebwerksexperten bisher Inspektionen und komplexe Labormessungen durchführen, die Prozesse und die Entscheidungsfindung verlangsamen. „Mit dem tragbaren GelSight Mobile-System erhält das Team nun die Möglichkeit, Prüfverfahren deutlich zu vereinfachen, zu beschleunigen und dabei zu denselben fundierten Ergebnissen über die Qualität von Triebwerksteilen zu kommen“, erklärt Youssef Benmokhtar, CEO von GelSight. „In unserer Zusammenarbeit mit der MTU haben wir gezeigt, dass unsere taktile Sensortechnologie für die Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle in der Luft- und Raumfahrt eingesetzt werden kann. Sie trägt dazu bei, diese Prozesse zu automatisieren, zu standardisieren und deutlich zu beschleunigen.“

Schritt 1: Das Abbild der Struktur einer Unebenheit lässt sich mit Hilfe des GelSight-Messgerätes einfach vermessen. Zunächst wird das GelPad auf die zu untersuchende Stelle gedrückt. Nach Drücken des Auslösers, wird aus den sechs Perspektivfotos ein 3D Modell erstellt. An diesem kann man nun die Stelle definieren, an der sich die zu analysierende Beschädigung befindet.

Schritt 2: Für die korrekte Einschätzung der Erhebung oder Einbuchtung wird ein Soll-Oberflächenniveau definiert, anhand dessen die zu beurteilende Stelle analysiert wird.

Vielfältige Einsatzmöglichkeiten

In der Endmontagelinien für das A320neo-Triebwerk PW1100G-JM und den A400M-Antrieb TP400-D6 in München ist das GelSight-Messgerät bereits seit 2019 im Einsatz. Das wird allerdings nicht der einzige Bereich bleiben, in dem der Triebwerkshersteller auf die GelSight-Technik setzt. Mandel: „Schon jetzt bekommen wir immer wieder Besuch von Kolleg:innen aus anderen Abteilungen, die schnell etwas überprüfen wollen.“ Im MTU-Maintenance-Verbund ist das Gerät bereits im Einsatz: Bei der MTU Maintenance Berlin-Brandenburg und am kanadischen Standort in Vancouver unterstützt GelSight bei der Reparatur und Schadensbeurteilung.

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