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Vorreiter Deutschland: Der Traum vom Senkrechtstarten

Senkrechtstarter sollten vor 50 Jahren die deutsche Luftfahrt revolutionieren – mit der Dornier Do 31 als V/STOL-Transportflugzeug für Luftwaffe und Passagierverkehr.

03.2023 | Autor: Andreas Spaeth | 7 Min. Lesezeit

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Andreas Spaeth ist seit über 25 Jahren als freier Luftfahrtjournalist in aller Welt unterwegs, um Airlines und Flughäfen zu besuchen und über sie zu berichten. Bei aktuellen Anlässen ist er ein gefragter Interviewpartner in Hörfunk und Fernsehen.

Vertikal startende Flugtaxis sind ein großes Luftfahrtthema der 2020er-Jahre. Fluggeräte, die bald quasi vor jeder Haustür landen können, oder zumindest in Innenstädten, wo bisher nie Platz für Luftverkehr war. Doch in Deutschland schien bereits vor über einem halben Jahrhundert auch für den zivilen Passagierverkehr das große Zeitalter der Senkrechtstarter bevorzustehen. Eindrucksvolle farbige Grafiken belegen, wie die Planer sich damals vorstellten, mit vertikal startenden Flugzeugen etwa vom Dach des Münchner Hauptbahnhofs abzuheben.

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So könnte der Münchner Hauptbahnhof heute aussehen – dachte man vor 50 Jahren. Ein multimodaler Verkehrsknotenpunkt mit STOL-Port auf dem Dach.

Maschinen zu bauen, die die Vorzüge von Hubschraubern mit jenen von Starrflügel-Flugzeugen verbinden, hat die Ingenieur:innen schon immer fasziniert. Die Idee war verlockend, Fluggeräte ohne Anlauf und ohne Auftrieb aus eigener Kraft in die Luft zu bringen und dann in den effizienten Reiseflug überzugehen. Ein französischer Quadrokopter von 1922 gilt als das erste zuverlässig fliegende und senkrecht vom Boden abhebende Luftfahrzeug der Geschichte. Bis zu senkrecht startenden Jets allerdings dauerte es noch bis in die 1960er-Jahre.

Senkrechtstart von der Autobahn

Die Entwicklung war getrieben vom Kalten Krieg und der Befürchtung, die Spannungen könnten sich in einem realen Konflikt entladen. Deutschland wäre im Konfliktfall an vorderster Front gewesen, viele Flugplätze lagen unweit der damaligen innerdeutschen Grenze, die die NATO-Verbündeten von den Warschauer Pakt-Staaten trennte. Um Kampfflugzeuge schnell ins Hinterland verlegen zu können und notfalls auch von Autobahnen aus zu starten, setzte die Luftwaffe auf Senkrechtstarter.

Schon 1959 gab die Bundesregierung drei Experimentalprogramme dafür bei der Industrie in Auftrag: einen Überschall-Abfangjäger, einen Unterschall-Kampfaufklärer und einen Transportjet. Daraus gingen die VJ101 C (Vertikal startendes Jagdflugzeug, Erstflug 1963) und die VAK 191B (Vertikal startendes Aufklärung- und Kampfflugzeug, Erstflug 1971) hervor. Vor allem aber das einzige je gebaute Transportflugzeug mit V/STOL-Eigenschaften (Vertical/Short Take-Off and Landing, übersetzt „Senkrecht-/Kurzstart und Landung“), die Dornier Do 31. Sie sollte bis zu sechs Tonnen Nutzlast mit rund 700 km/h fliegen können, das entspricht etwa einem Drei-Tonnen-LKW plus Personal oder bis zu 36 voll ausgerüsteten Soldaten.

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Der Do 31-Prototypen bei Schwebeflügen auf dem Dornier-Werksgelände in Oberpfaffenhofen, die erstmals 1967 stattfanden.

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19,3 Tonnen Abfluggewicht hatte die Do 31 bei ihrem Erstflug 1967.

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Bereits 1964 hob als Vorläufer das sogenannte Reglerversuchsgestell ab, damit wurden vor allem Schweberegelung und Steuerung erprobt.

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Die gesamte Testflotte versammelt in Oberpfaffenhofen: Das 1965 erstmals erprobte Große Schwebegestell (mit roter Bugnase) sowie die beiden Do 31-Prototyoen E1 und E3.

Militärische Senkrechtstarter blieben ein Nischenprodukt


Die Senkrechtstartereuphorie bei vielen Luftstreitkräften hielt sich nur eine kurze Episode, die bereits endete, bevor sich derartige Flugzeuge überhaupt etablieren konnten. Die technischen Probleme, die zu lösen waren, erwiesen sich als immens. Einzig die britische Hawker Siddeley Harrier konnte sich als VTOL-Erdkampfflugzeug ab 1969 durchsetzen. Inklusive seines bis 2003 gebauten Nachfolgers Harrier II, wurden 670 ausgeliefert und zum Beispiel auf Flugzeugträgern eingesetzt. Die damalige Sowjetunion setzte dem ab 1971 ihre Jak-38 entgegen, die Mitte der 1990er-Jahre ausgemustert wurde. Einen geplanten Nachfolger gab es nicht.


Über 40 Senkrechtstarter-Typen schafften es in die Luft

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Die Lockheed Martin F-35B ist der einzige moderne Senkrechtstarter, speziell konzipiert für den Einsatz auf Flugzeugträgern.

Vor allem die kritische Übergangsphase vom Schwebeflug in den Horizontalflug blieb eine hartnäckige Herausforderung, einige Testpiloten ließen dabei ihr Leben. 1981 begannen die Entwicklungsarbeiten an der militärischen Bell-Boeing V-22 Osprey, die nach ebenfalls häufigen heftigen Rückschlägen als erster serienmäßig gebauter Kipprotor-Hubschrauber seit 2005 bei der US Air Force und dem US Marine Corps im Einsatz steht. Projekte für senkrecht startende Militärjets gab es viele, über 40 Typen schafften es in die Luft, außer den genannten wurde aber keiner in größeren Stückzahlen gebaut. Derzeit steht die Lockheed Martin F-35B als senkrecht startendes Tarnkappen-Mehrzweckkampflugzeug der fünften Generation im Fokus, das vor allem für den Einsatz auf Flugzeugträgern ausgerichtet ist. Im sogenannten STOVL-Betrieb (Short Take-Off and Vertical Landing) steht das Flugzeug mit Vektor-Schubdüsen bereits bei den US Marines und der britischen Royal Air Force im Einsatz, wo es die Harrier ablöst.

Hub-und Marschtriebwerke: komplexe mechanische Konstruktion

Die Ingenieur:innen entschieden sich gegen schwenkbare Triebwerke, stattdessen installierten sie an den Flügelenden Gondeln mit je vier Rolls-Royce RB162-Turbojets als Hubtriebwerken, die pro Stück nur 127 Kilogramm wogen, aber jeweils zwei Tonnen Schub produzierten. Durch schwenkbare Schubdüsen trugen auch die beiden Marschtriebwerke unter den Tragflächen zum senkrechten Startvermögen bei. Hierfür wurden zwei Bristol Siddeley (heute Rolls-Royce) Pegasus 5-2-Turbofans gewählt, die auch im bis heute erfolgreichsten Senkrechtstarter der Hawker Siddeley Harrier zum Einsatz kamen. Nicht einmal die damals stärksten Hubschrauber der Welt hatten ein derartiges Hubvermögen wie die Do 31 mit ihren maximal 24,5 Tonnen Startgewicht.

Am 10. Februar 1967 startete die Do 31 erstmals in Oberpfaffenhofen bei München mit zunächst 19,3 Tonnen Abfluggewicht zum Erstflug. Ein Meilenstein, galt es doch mit der Technologie der 1960er-Jahre komplexeste Herausforderungen bei Aerodynamik, Triebwerksanordnung, Flugsteuerung und an der Schnittstelle zwischen Steuerung und Pilot:innen zu lösen. Das Steuerungssystem mit dem exakten Zusammenspiel der Hub- und Marschtriebwerke in Bodennähe war eine komplexe mechanische Konstruktion. Erste Ansätze für das spätere Fly-by-Wire-System, die elektronische Flugsteuerung, waren erkennbar, das gleichzeitig bereits in der Concorde Einzug hielt und später zur Philosophie der Airbus-Cockpits wurde.

Bis heute nicht gebrochene Weltrekorde auf dem Weg nach Paris

Zu großer Form lief die Do 31 in einem ohnehin außerordentlich ereignisreichen Jahr in der weltweiten Luft- und Raumfahrt auf. Nicht nur absolvierten 1969 sowohl die Concorde als auch die Boeing 747 ihre Erstflüge, auch die Mondlandung hielt die Welt in Atem – alles schien machbar. Kurz zuvor schaffte die Do 31 auf dem Überführungsflug von Oberpfaffenhofen zur Pariser Luftfahrtschau gleich mehrere Weltrekorde für jet-getriebene Senkrechtstarter dieser Gewichtsklasse – einer davon war die Dauer von einer Stunde und 19 Minuten. Sie wurden bis heute nicht gebrochen. Allerdings hatte die Do 31, wie alle Senkrechtstarter entscheidende Nachteile: Sie verbrauchte extrem viel Kerosin und beinahe noch extremer war ihre Lautstärke innen und außen.

„Die Menschen in der Umgebung von Oberpfaffenhofen bekamen Angst, wenn die Erde bebte und wieder dieses unglaubliche Brüllen anhob, nicht vergleichbar mit normalem Fluglärm“, berichtete der deutsche Testpilot Dieter Thomas (verstorben 2013) in einem Interview. „Dieses zehnmotorige Flugzeug war so unfassbar laut bis zu dem Punkt, wo es Schaden anrichtete“, erklärte sein Kollege Drury Wood (verstorben 2019) und meinte damit sowohl Gesundheits- wie Sachschäden, etwa an Häusern.

Trotzdem gab es damals große Pläne für den Passagierverkehr mit Senkrechtstartern. Dafür hatte Dornier bereits einen abgewandelten Entwurf der Do 31 präsentiert, die Do 231. Ausgelegt als Schulterdecker sollte sie für die Lufthansa hundert Passagiere mit bis zu 900 km/h knapp 3.000 Kilometer weit transportieren. Mit nun zwölf Hubtriebwerken wären 59 Tonnen Startgewicht möglich gewesen, der geplante Flugbetrieb sollte 1977/78 beginnen.

So hätte die 1969 geplante zivile Version eines senkrechtstartenden Verkehrsflugzeugs für 80 bis 100 Passagiere ausgesehen. Die Lufthansa war damals interessiert an dem Entwurf Do 231.

Die Ölkrise beendete alle zivilen Senkrechtstarter-Träume

Aber die Weltlage war damals klar gegen Senkrechtstarter. Die Bundesregierung strich schon 1967 Forschungsbudgets auch für die Entwicklung der Do 31, für die Militärs verloren sie an strategischer Bedeutung und 1973 beendete die Ölkrise alle zivilen Senkrechtstarter-Träume. „Vom heutigen Standpunkt aus lässt sich die Senkrechtstarteuphorie der sechziger Jahre nur sehr schwer erklären“ befanden Firmenhistoriker des Airbus-Konzerns Jahrzehnte später. „Aus Wirtschaftlichkeits- und Lärmgründen hätte die damalige Technologie heutzutage keine Chance mehr.“

Für Sondereinsätze sähe dies anders aus, sichtbar etwa an modernen Kipprotorflugzeugen wie der Bell-Boeing V22 Osprey. „Dies auch deshalb, weil heutige Triebwerke bei gleicher Masse deutlich leistungsfähiger und dazu wesentlich leiser und sparsamer sind.“ Die deutschen Ingenieur:innen waren vor über 50 Jahren ihrer Zeit jedenfalls klar voraus, ihren heutigen Kolleg:innen können die frühen Konzepte aber durchaus Inspiration liefern. In den modernisierten Gebäuden, in denen damals die Do 31 in Oberpfaffenhofen entwickelt wurde, ist jetzt jedenfalls die Firma Lilium beheimatet, die an einem elektrisch betriebenen Senkrechtstarter tüftelt, heute eVTOL (electric Vertical Take-Off and Landing) genannt.

Ein Kipprotor-Flugzeug auch für die zivile Nutzung

Langsam schwebend hebt die AW609 ab, nur ein leises Sirren ist zu hören, sie fliegt sogar kurz rückwärts, bevor langsam die beiden Motorgondeln mit den großen Rotoren von der Horizontalen in die Vertikale schwenken und zu Zugpropellern werden. Jetzt nimmt die Maschine deutlich Geschwindigkeit auf. Gewöhnliche Hubschrauber steigen im Reiseflug meist auf weniger als 3.000 Meter Höhe und erreichen selten mehr als rund 260 km/h Reisegeschwindigkeit. Die AW609 mit ihrer neunsitzigen Druckkabine dagegen fliegt auf über 7.600 Meter Flughöhe und schafft es, über 1.800 Kilometer zurückzulegen bei einer Geschwindigkeit von 500 km/h. Und kann dabei auf Parkplätzen, Hausdächern oder Bohrinseln starten und landen. Das ist die Idee von sogenannten Kipp- oder Schwenkrotor-Flugzeugen (englisch Tiltrotor).

Die Offshore-Industrie ist eine der wichtigsten Zielgruppen

Seit über zwei Jahrzehnten wurde die AW609 entwickelt, deren Erstflug bereits 2003 erfolgte. Ihr Name geht noch auf die vorherigen Betreiber Agusta/Westland zurück, jetzt allerdings ist der italienisch-amerikanische Hersteller Leonardo derjenige, die es tatsächlich schaffen könnte, möglicherweise 2024 den zweiten zugelassenen Kipprotor-Hubschrauber mit Triebwerken des Typs Pratt & Whitney PT6C-67A überhaupt auf den Markt zu bringen – den ersten jemals für zivile Aufgaben. Die Offshore-Industrie, die bisher im Ölbohrbetrieb mit Hubschraubern auf die Plattformen im Meer fliegt, ist eine der wichtigste Zielgruppen künftiger ziviler Nutzung von Kipprotor-Varianten.

Die Leonardo AW609 könnte 2024 als einziges Kipprotorflugzeug auch für den zivilen Einsatz etwa im Offshore-Verkehr zugelassen werden.

Kipprotor-Projekte waren bisher oft von Rückschlägen geprägt und sehr teuer, das ist beim aktuellen Zulassungsprozess nicht anders. Denn so ein Fluggerät, bei dem die Antriebspropeller um die Querachse geschwenkt werden, um die Richtung des Schubs zu verändern, gab es für den zivilen Einsatz noch nie. Auch für die Aufsichtsbehörde FAA ist das Neuland. Die AW609 wird nach einer Kombination aus bestehenden Standards der Flugtransport-Kategorie sowie neuen Kipprotor-Vorschriften zugelassen. „Das ist die erste völlig neue Flugzeug-Kategorie für die FAA seit vielen Jahrzehnten, deshalb müssen sie über die AW609 hinaus schauen und Bedingungen für alle gegenwärtigen, aber auch zukünftigen Fluggeräte dieser Klasse festlegen“, sagt Matteo Ragazzi, Leonardos Chefingenieur.

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