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So verläuft die Zertifizierung und Validierung von Triebwerken

Die Zertifizierung und Validierung eines Triebwerks ist ein jahrelanger, aufwendiger Prozess. Es geht dabei um Flugsicherheit, aber auch um Energieverbrauch und Instandhaltungsintervalle.

01.2024 | Autor: Tobias Weidemann | 7 Min. Lesezeit

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Tobias Weidemann ist seit mehr als 20 Jahren als Journalist und Content-Berater tätig. Er berichtet über Technik- und Wirtschaftsthemen, oft mit Schwerpunkt auf Business-IT, Digitalisierung und Zukunftstechnologien.

EASA (European Union Aviation Safety Agency):

EASA (European Union Aviation Safety Agency): Die EASA ist die Flugsicherheitsbehörde der Europäischen Union für die zivile Luftfahrt. Ihr Sitz ist in Köln.

FAA (Federal Aviation Administration):

FAA (Federal Aviation Administration): Die FAA ist die Bundesluftfahrtbehörde der Vereinigten Staaten. Ihr Sitz ist in Washington, D.C.

Dass die Luftfahrtindustrie zu den Branchen mit den höchsten Sicherheitsstandards gehört, dürfte kaum überraschen. Nicht nur die Flugzeuge selbst, sondern auch die Triebwerke und deren einzelne Komponenten durchlaufen aufwendige Tests und Prüfungen, bei denen nichts dem Zufall überlassen wird. Doch was genau passiert eigentlich, bevor ein Triebwerk schließlich am Flügel eines Flugzeugs hängen darf?

Hört man Dr. Stefan Gehring zu, der die Musterprüfleitstelle bei der MTU Aero Engines verantwortet, wird schnell klar, dass all das ein herausfordernder Prozess ist, bei dem es einerseits um die Zertifizierung gegenüber einer Luftfahrtbehörde geht, aber auch um die Validierung darüber hinausgehender Anforderungen. „Wir unterscheiden hier zwischen Certification und Qualification. Die Zertifizierung durch die Behörden fragt rein nach der Sicherheit und der Flugtauglichkeit, ist also ein flugsicherheitstechnischer Funktionsnachweis.“ Dieser Nachweis soll sicherstellen, dass das Triebwerk im gesamten Lebenszyklus in allen Betriebssituationen und Umgebungen nie den sicheren Flug gefährdet, also dass etwa ein sicherer Start auch bei Schnee und Eis möglich ist. Neben der unabhängigen Begutachtung der Konstruktion selbst wird beispielsweise ein umfangreiches Testprogramm durchgeführt, das anspruchsvolle Dauerläufe, das Ansaugen von Fremdkörpern und den Betrieb bei hohen Temperaturen oder unter Vereisungsbedingungen umfasst. Nach der ersten Zertifizierung kann das Triebwerk in Betrieb gehen. Danach werden oft weitere Verbesserungen und Reparatur-Verfahren aufgrund der Betriebserfahrung entwickelt, die ebenfalls zugelassen werden müssen, um sie anwenden zu können.

„Für uns als Hersteller und für unsere Kunden hat bei allem die Sicherheit der MTU-Produkte Vorrang. Darüber hinaus fragen wir aber auch nach Effizienz, Energieverbrauch, Instandhaltungsintervallen und zahlreichen technischen Messwerten“, so Gehring. Denn die MTU arbeitet natürlich daran, mit weniger Kraftstoff und Energie und damit weniger Emissionen auszukommen, um einen möglichst effizienten Flugbetrieb zu ermöglichen. Daher umfasst das Validierungsprogramm sehr verschiedene Triebwerkstests, die mit Fachabteilungen und Kooperationspartner abgestimmt werden und damit einen größtmöglichen Erkenntnisgewinn gewährleisten.

PW500

Seit 1993 ist die MTU mit 25 Prozent am PW500 beteiligt. Das PW545D nutzt neue Werkstoffe und Technologien, um den Treibstoffverbrauch zu senken, den Schub zu erhöhen und die Laufzeit zu verlängern.

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Max. Schub (Start): 4.500 lb
Nebenstromverhältnis: 4,1:1
Druckverhältnis: 15,5:1
Länge: 1.700 mm
Fan-Durchmesser: 693 mm
Gewicht: 373 kg

Ein modifiziertes Triebwerk – mit einigen bewährten Komponenten

All das klingt zunächst theoretisch – und so erklärt Philipp Kreppenhofer, Validierungsingenieur bei der MTU, den Prozess am Beispiel des PW545D, ein Triebwerk, das die MTU in Kooperation mit Pratt & Whitney Canada für die Cessna Citation Ascend realisiert. Federführend ist in diesem konkreten Fall Pratt & Whitney Canada als Triebwerkshersteller und Auftragnehmer von Textron Aviation. Da Pratt & Whitney Canada in der Nähe von Montreal angesiedelt ist, erfolgt die Zertifizierung für die Zulassung durch Transport Canada (TCCA), das kanadische Ministerium für Verkehrswesen, das unter anderem für Luftfahrtsicherheitsfragen zuständig ist. Diese Zertifizierung wird dann in aller Regel aufgrund von bilateralen Abkommen durch die amerikanische Federal Aviation Administration (FAA) und die europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) übernommen. Die MTU wiederum unterstützt Pratt & Whitney im Vorfeld durch eine ausführliche Dokumentation derjenigen Teile, die vom Unternehmen kommen.

Immerhin handelt es sich in diesem Fall um eine Mustererweiterung, bei dem im Gegensatz zu einer Erstzertifizierung nur ein ausgewähltes Triebwerkstestprogramm gefahren werden muss. Das gibt der MTU die Möglichkeit, das Augenmerk gezielt auf neue Bauteile zu richten und besonders umfassende und sorgfältige Tests für jene Bestandteile durchzuführen, die sich entscheidend verändert haben. „Die Teile des Triebwerks, die bereits unverändert seit Jahren bei den Vorgängervarianten eingesetzt werden, sind bereits zertifiziert, was immerhin ein Großteil der Teile der PW545D betrifft“, sagt Kreppenhofer. Denn es handelt sich, die Bezeichnung verrät es bereits, um die D-Serie, die vierte und bis dato leistungsstärkste Variante der PW500-Serie. Diese weist einen verbesserten Kraftstoffverbrauch sowie einen höheren Wirkungsgrad auf als die Vorgängermodelle. Sie ist aber dennoch weit mehr als reine Modellpflege, auch wenn sich zwischen der C- und der D-Serie nur wenige Komponenten komplett geändert haben. „Verändert wurden“, so erklärt Kreppenhofer, „unter anderem das Turbinengehäuse und der Mischer, während Niederdruckturbine und Turbinenaustrittsgehäuse identisch mit der C-Version sind.“

The Citation Ascend

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Reichweite mit 4 Passagieren: 1.900 nm / 3.519 km
Max. Reisegeschwindigkeit: 441 ktas / 817 km/h
Max. Anzahl Passagiere: 12
Volle Treibstoffnutzlas:t 850 lb / 386 kg
Startstrecke: 3.660 ft / 1.116 m

Selbst bei Modifikation ein weitreichender Prozess

Auch wenn der neue Business-Jet von Cessna erst im Jahr 2025 in den Regulärbetrieb gehen soll, haben die Entwicklung und der Zertifizierungsprozess bereits deutlich früher begonnen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist die Verifikations- und Validierungsphase mit den ersten Entwicklungstests und Performanceläufen abgeschlossen. Dabei hat das Team in Abstimmung mit dem OEM und der Zulassungsbehörde entschieden, welche Bereiche wie validiert werden und mit welchen Testszenarien man die gewünschten Daten zuverlässig erheben kann. „Für die Tests, die dieses Jahr gelaufen sind, haben wir schon im Laufe des letzten Jahres die Hardware angepasst, instrumentiert und ausgeliefert, damit alles rechtzeitig vor Ort ist,“ so Kreppenhofer.

Anfang diesen Jahres fand der eigentliche Zulassungstest mit dem sogenannten Zertifikations-Endurance Test (auch „Block-Test“ genannt) statt. „Der Block-Test ist immer Pflicht und ist ein Dauerlauf, der zahlreiche relevante Daten über die Triebwerkslebensdauer vor allem im Heißteilbereich und über das Verhalten in typischen Serienbetriebssituationen inklusive Extrembedingungen liefert“, erklärt Kreppenhofer. Dabei werden unter anderem zahlreiche Starts und Landungen simuliert und das Triebwerk im Wechsel hoch- und runtergefahren, um möglichst den vollen Lebensdauerverbrauch insbesondere im Heißteilbereich in kürzester Zeit zu simulieren. Ziel ist es dabei, einen möglichst schnellen Überblick über den mechanischen Zustand des Triebwerks bis zur ersten geplanten Überholung der Maschine zu erhalten und die Flugsicherheit zu demonstrieren. So erlaubt der Test auch Rückschlüsse auf das Bauteilverhalten in verschiedensten Belastungsbereichen, beispielsweise bei Schwingungsanregungen aufgrund verschiedener Rotordrehzahlen und die Gewährleistung der mechanischen Integrität bis zur ersten geplanten Instandsetzung.

Simulationen: In Zukunft will man bestimmte Sachverhalte auch über einen Digita-len Zwilling, also eine komplette Computersimulation über den gesamten Lebens-zyklus des Triebwerks hinweg, testen.

Durchgeführt wurde außerdem ein SAS-Test (Secondary Air System), um das Luftsystem des Triebwerks zu überprüfen. „Dabei kann sich mitunter zeigen, inwiefern die im Test real gemessenen Druck- und Temperaturwerten den analytischen Modellen der MTU übereinstimmen. Die Verifizierung der Berechnungsmodelle ist ein wichtiger Schritt der Produktentwicklung“, so der Ingenieur. Gerade im Rahmen eines solchen Tests sollen große Mengen an Thermodaten gesammelt und ausgewertet werden. Die Ingenieur:innen können im Rahmen dieser zerstörungsfreien Testszenarien sehr gut einschätzen, ob es bei einzelnen Bauteilen Probleme oder Bauteilschädigungen geben könnte, die für den Serieneinsatz ein Ausschlusskriterium wären.

„Nach den Validierungs- & Zertifizierungsläufen schauen wir uns die Hardware im Detail an, um zu klären, ob diese erwartungsgemäße Abnutzung oder Auffälligkeiten aufweisen oder ob es hier Optimierungsbedarf gibt“, erklärt Kreppenhofer. Ausführlich bewertet die MTU nun die Daten und analysiert die Laborergebnisse. Mit den gesammelten Daten und Ergebnissen erstellen die Fachabteilungen Zulassungsberichte, die anschließend Pratt & Whitney bereitgestellt werden. Pratt & Whitney Canada trägt sämtliche relevanten Daten zusammen und durchläuft so die Zertifizierung durch die Zulassungsbehörde TCCA und im weiteren der FAA und EASA.

Neuer Business Jet: Die Citation Ascend soll dem Markt für mittelgroße Geschäfts-reiseflugzeuge ein völlig neues Cockpit, verbesserte Leistung und eine luxuriösere Kabine bieten. Angetrieben wird sie von PW545D-Triebwerken von Pratt & Whitney Canada.

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Gesamttriebwerkstest vor Ort bringt wichtige Erkenntnisse

Entwickelt wird ein Teil der Komponenten am Standort in München, ein Teil bei der MTU Aero Engines Polska in Rzeszów. Dort sind viele Ingenieur:innen ansässig, die die Weiterentwicklung der PW545D vorantreiben, wie Projektleitung und Analytik. Umgekehrt sind viele Abteilungen, die für die Bereitstellung der Entwicklungshardware zuständig sind, in München angesiedelt, in denen auch die Beschaffung, Fertigung und Instrumentierung der entwicklungsspezifischen Hardware (Gehäuse und Mischer) erfolgte. Der Zusammenbau des Triebwerks und die Gesamttriebwerkstests fanden bei Pratt & Whitney in Kanada statt. In der späteren Serienfertigung werden, wie auch zuvor bei der PW545C, die von der MTU Aero Engines Polska gelieferten Rotor- und Statorteile zusammengebaut, während Anbauteile, wie die Austrittsgehäuse und Mischer, in Einzelteilen bereitgestellt werden. Die Bauteile, die sich gegenüber dem PW545C-Standard nicht geändert hatten und für die Entwicklungstests eingesetzt wurden, kamen regulär aus der bereits laufenden Serienfertigung der MTU Aero Engines Polska.

Auch wenn all das nach einem hohen Aufwand klingt, gibt es hierfür im Interesse der Sicherheit keine Alternative: „Ein Gesamttriebwerkstest bringt wichtige Erkenntnisse für die beteiligten Fachabteilungen und wird deshalb in seiner Gesamtheit auch weiterhin für uns wichtig bleiben. Denn eine Zertifizierung der einzelnen Teile für sich in Deutschland würde nur einen Teil der relevanten Daten liefern und die Anforderungen an das Gesamttriebwerk nicht befriedigen“, erklärt Stefan Gehring.

Dennoch versuche man bereits heute, soweit wie möglich mit Simulationen zu arbeiten. In Zukunft will man bestimmte Sachverhalte auch über einen Digitalen Zwilling, also eine komplette Simulation im Computer über den gesamten Lebenszyklus des Triebwerks hinweg, testen. Mit Hilfe steigender Rechenleistung wird man immer mehr Testszenarien abbilden können, was die Entwicklung immens beschleunigen und vereinfachen kann. Hier wird mittels Simulationen in Zukunft zudem deutlich schneller eine Vielzahl an Varianten berechnen können, sodass es der MTU zudem gelingt, Triebwerke gezielt für unterschiedliche Einsatzszenarien weiter zu optimieren.

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