innovation
Neues Datenmanagement für Triebwerkstestdaten
40 Jahre leistete die MTU-Messdatenbank Entwickler:innen und Ingenieur:innen wertvolle Dienste. Jetzt läuft der großangelegte Aufbau der Nachfolgegeneration.
06.2021 | Autor: Thorsten Rienth | 4 Min. Lesezeit
Autor:
Thorsten Rienth
schreibt als freier Journalist für den AEROREPORT. Seine technikjournalistischen Schwerpunkte liegen neben der Luft- und Raumfahrtbranche im Bahnverkehr und dem Transportwesen.
Um das Jahr 1980 stecken bei der MTU Aero Engines einige Triebwerksentwickler:innen und Softwareentwickler:innen die Köpfe zusammen. Zwei für ihre Arbeit ganz wesentliche Gegebenheiten sind neu: Die Leistung von Computern hat gerade einen Sprung hingelegt und erhält umfangreichen Einzug in die Triebwerksentwicklung. Auch bei der Sensorik in den Prüfständen steht ein Generationenwechsel an. Noch nie zuvor konnten Triebwerksdaten derart fein aufgezeichnet werden. Jetzt braucht es eine Datenbank, die beides zusammenführt.
Die Wahl der Triebwerksentwickler:innen und Softwareentwickler:innen fällt auf eine File-Struktur mit Binärcontainern. Computerprogramme verwenden das Format, um Daten strukturell für die weitere Verarbeitung auszurichten oder bestimmte Datenfelder, die kleinste Einheit eines Datensatzes, optimiert zu speichern. Der entscheidende Nachteil, erklärt IT-Projektleiter und Entwickler Dr. Fabian Bayerlein: „Das ist eine sehr fragmentierte Datenhaltung und es gehen mitunter Tage für übergreifende Analysen der Triebwerkstestläufe drauf.“
Natürlich: Zusammen mit dem technologischen Fortschritt ist die MTU-Messdatenbank in all den 40 Jahren mitgewachsen. „Speicherkapazitäten wurden massiv ausgebaut, Zugriffgeschwindigkeiten vervielfacht, neue Programmierschnittstellen implementiert“, sagt Bayerlein. Ein weiterer Nachteil aber blieb: „Aufgrund der damals gewählten Architektur lassen sich die Messdaten nur sehr eingeschränkt mit übergeordneten Metadaten verbinden.“
„Zur MTU bin ich über ein EU-Forschungsprojekt im Rahmen meiner Promotion an der TU München zum 3D-Metalldruck gekommen, dessen Ergebnis heute produktiv bei der MTU eingesetzt wird. MDM2020 ist also nun schon mein zweites Projekt, in dem ich nicht einfach nur Software programmiere – sondern auch jeden Tag sehe, dass ganz unmittelbare technische Anwendungen dahinterstecken. Der intensive Austausch mit den Anwendern im Fachbereich und die gemeinsame Lösungsfindung in vertrauensvoller Atmosphäre bereitet mir viel Freude.“
IT-Systemplaner bei der MTU Aero Engines
Sekundenschneller Messwert-Zugriff von allen Fachdisziplinen
Genau diese Verknüpfung von Daten ist für die moderne Triebwerksentwicklung aber geradezu zentral. Berechnungsingenieur Michael Kern aus der Triebwerksleistungsrechnung gibt ein Beispiel: An einer Turbine etwa lassen sich einige physikalische Größen unmittelbar messen, zum Beispiel der Druck am Eintritt der Komponente. „Andere Größen, wie etwa der thermische Wirkungsgrad (ein Maß für die Effizienz) eines Triebwerks, werden hingegen in Analyserechnungen ermittelt. Diese Analysen basieren auf komplexen Triebwerksmodellen, in denen sehr viele Messwerte eingelesen werden.“ Hunderte, manchmal tausende Messwerte müssten die Entwickler:innen in Kontext setzen. „In diesen Zusammenhang lassen sich die Messwerte im bisherigen Messdatenmanagement nur mit sehr großem Aufwand setzen – weil sie eben nur mit sehr großem Aufwand zugänglich sind.“
Zusammen mit Kern hat Bayerlein deshalb mit der Etablierung eines standardisierten und zentralen Versuchsdatenmanagements begonnen. Unter dem Projektnamen MDM2020, kurz für „Messdatenmanagement 2020“, arbeiten sie fachübergreifend und interdisziplinär mit einer ganzen Mannschaft an nicht weniger als einem kompletten Neuaufbau des MTU-Messdatenmanagements.
Möglichst unkompliziert sollen auf der einen Seite die gemessenen Werte aller Test- und Prüfläufe hineinfließen – und die Entwickler:innen auf der anderen mit ihren bestehenden Tools möglichst unkomplizierten Zugriff darauf erhalten. Solche IT-technischen Lösungen unterstützen die Effizienz von Auslegungsprozessen und damit die Wettbewerbsfähigkeit der MTU. Das meiste muss die Mannschaft von Grund auf aufbauen. Eine Blaupause, an der sich die Entwickler:innen orientieren könnten, gibt es nicht.
Standardisierung trifft auf individuelle Tools in der Triebwerksentwicklung
Ihr Ansatz stellt die jahrzehntelange Herangehensweise auf den Kopf. „Anstatt dass jeder Fachbereich direkt auf die File-Struktur zugreift, arbeiten wir an einer serverbasierten Datenbank mit sehr vielfältigen Interfaces für die Metadatensuche“, erklärt Bayerlein. Das Grundgerüst bildet ein etablierter Standard auf dem eine Open-Source-Software aufsetzt. „Es bietet einerseits die solide Basis, andererseits auch die Möglichkeit, die gerade in der Triebwerksentwicklung sehr individuellen Bedarfe aus den Fachabteilungen von der Triebwerksleistungsrechnung über die Aeroelastik bis zur Strukturmechanik anzudocken.“
In welchen Messkanälen eines bestimmten Entwicklungstriebwerks wurden bei Testläufen Temperaturen von 500 Grad Celsius überschritten? Welche Messreihen wurden mit einer bestimmten Kombination aus Hard- und Software und mit welcher Sensorik durchgeführt? Auch die klassische Messdatensuche etwa für langfristige Leistungsbeurteilungen im MRO-Bereich wollen Bayerlein und das Team über die gleichen Schnittstellen kanalisieren. Wie verändern sich bestimmte Werte eines bestimmten Triebwerks über dessen Lebensdauer? Und wie hoch war in dieser Lebensdauer der Anteil von besonders hohen Drehzahlen? Wert für Wert wollen die Entwickler:innen ein immer engmaschigeres Netz aus Wirkungsgraden, Relationen und Verhältnissen der Messwerte knüpfen – und daraus wertvolle Rückschlüsse in die Auslegung der nächsten Triebwerksgeneration mitnehmen.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Für die Etablierung des standardisierten Versuchsdatenmanagement hat Fabian Bayerlein ein komplettes Team aus unterschiedlichsten Fachbereichen zur Unterstützung.
Datendrehscheibe für OEM- und MRO-Geschäft
Bisweilen führt der Weg dorthin über die Straße, auch in der Luftfahrt. Beim Aufbau des Messdatenmanagements kooperiert die MTU unter anderem mit deutschen Automobilherstellern. Ein industrieübergreifendes Konsortium arbeitetet bereits seit einigen Jahren mit standardisierten Systemen des Messdatenmanagements. „Wir profitieren von bereits implementierten und damit auch erprobten Features, die wir auf unser System hin adaptieren“, sagt Bayerlein. Die Partner wiederum erhalten Gelegenheit, die spezifischen MTU-Features für ihre Anwendungen zu nutzen.
Wie eine Datendrehscheibe müsse man sich das MDM2020 vorstellen. „Wenn zum Beispiel bei der MTU Maintenance Zhuhai ein überholtes Triebwerk den Abnahmelauf beendet, sollen die Daten ihren Nutzen etwa bei den Kolleg:innen der Reparaturentwicklung bei der MTU Maintenance Hannover ausspielen oder bei den Entwickler:innen, die in München an der nächsten Triebwerksgeneration arbeiten.“
Aktuell läuft die Konstruktion des Gerüsts für eine solche Datendrehscheibe. Im Jahresverlauf 2022 soll das neue Messdatenmanagement in den Betrieb gehen und die Nachfolge des Vorgängers antreten. Würden sich die Bedarfe ergeben, sagt Bayerlein, lasse sich die Architektur auch durchaus um Anwendungen jenseits von Testing und Triebwerksentwicklung erweitern.
MDM2020
Datendrehscheibe: Das MDM2020 sammelt die gemessenen Werte aller Test und Prüfläufe und bereitet diese so auf, dass sämtliche Fachbereiche und Partner sich ihre relevanten Informationen aus den Daten ziehen können.