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Schnell und präzise: Angebotskalkulation mit Big Data
Mit der neuen Advanced Proposal Calculation 2.0 hat die MTU Maintenance ein digitales Zukunftsprojekt gestartet, von dem Airlines und Instandhalter gleichermaßen profitieren.
05.2021 | Autor: Thorsten Rienth | 4 Min. Lesezeit
Autor:
Thorsten Rienth
schreibt als freier Journalist für den AEROREPORT. Seine technikjournalistischen Schwerpunkte liegen neben der Luft- und Raumfahrtbranche im Bahnverkehr und dem Transportwesen.
Wer Triebwerke möglichst kostengünstig betreiben will, sollte am besten hellseherische Fähigkeiten mitbringen. Über 10, 12, manchmal sogar 15 Jahre, laufen die Instandhaltungsverträge üblicherweise. Jahre, in denen viel passieren kann. Der Ölpreis steigt oder fällt. Neue Flugzeuge ersetzen ältere. Materialpreise schnellen wegen Engpässen plötzlich in die Höhe. Eine Kalkulation, die am Anfang noch aufgeht, kann sich zum Ende hin ins Gegenteil drehen.
Datensätze, künstliche Intelligenz und Heuristiken ermöglichen neuartige Ansätze für zuverlässige Prognosen
- Mit der Digitalisierung hebt die Luftfahrt ab
- Hochleistungsspeicher fürs Triebwerksbusiness
- Schnell und präzise: Angebotskalkulation mit Big Data
- Dokumentenrecherche mit Künstlicher Intelligenz
- Neues Datenmanagement für Triebwerkstestdaten
- Mastermind für die MTU-Produktion
„Der Weg zum APC 2.0 ist hinsichtlich Komplexität eine Herausforderung erster Güte: Data Science-Modelle, Expertenwissen, Künstliche Intelligenz, Algorithmen – und ein Projektsetup über zahlreiche MRO-Standorte und Funktionalitäten hinweg. Wie bei allen großen Digitalisie-rungsvorhaben darf man die Kulturveränderung nicht unterschätzen. Schließlich wird Expertenwissen an eine Maschine übergeben. Das Vertrauen der Expert:innen zu gewinnen und sie für das Projekt zu motivieren, gehört daher ebenso zu den Herausforderungen. Veränderungsbereitschaft ist von allen gefordert. Ich bin begeistert, wie schnell sich Kolleg:innen auf neue Software und Programmiersprachen einstellen.“
Senior Manager Engine Programs bei der
MTU Maintenance Hannover
Als Hellseher arbeitet Claus Bullenkamp nicht, sondern als Senior Manager Engine Programs bei der MTU Maintenance Hannover. Beides hat aber mehr miteinander zu tun, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Glaskugeln gehören jedoch nicht zu Bullenkamps Arbeitsausstattung. Stattdessen Software, um aus Datensätzen, künstlicher Intelligenz und Heuristiken die Berechnung von Szenarien und den Wahrscheinlichkeiten dahinter zu ermöglichen.
Denn um sie dreht sich bei den komplexen Angebotskalkulationen im MRO-Geschäft so gut wie alles. Und alles steht und fällt mit den Wahrscheinlichkeiten, zu denen diese Szenarien in einem Triebwerksleben eintreten. „Der Ersatzteilmarkt schwankt enorm – und damit auch die Verfügbarkeit und Preise von für die Instandhaltung unverzichtbaren Komponenten und Materialien“, erklärt Bullenkamp. Könnte es womöglich sinnvoller sein, ein Triebwerk anstatt nach zehn bereits nach acht Jahren in die Generalüberholung zu schicken? Gut möglich, dass die Rechnung aufgeht. Zum Beispiel: „Wenn bestimmte Materialkosten, die wiederum einen beachtlichen Teil der Instandhaltungskosten ausmachen, innerhalb der nächsten zwei Jahre mit einer hohen Wahrscheinlichkeit massiv ansteigen.“
Die Kalkulation lässt sich auch in die andere Richtung aufstellen. Wenn beispielsweise absehbar würde, dass aufgrund eines Flottenwechsels einer großen Airline bald zahlreiche Triebwerke eines bestimmten Typs auf den Markt kommen. „Dann könnte man vorhandene Restlebensdauer mit vertretbarem Risiko ohne viel Puffer bis zum Ende ausnutzen – und wäre wohl kostengünstiger unterwegs.“ Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch alles anders kommt? „Dann wären wir über die MTU Maintenance Lease Services, einem Joint Venture mit der japanischen Sumitomo Corporation, in der Lage, dem Kunden unkompliziert ein Ersatztriebwerk zur Verfügung zu stellen.“
Alleinstellungsmerkmal: Das MTU-Data Engineering koppelt Daten aus dem Flugbetrieb mit dem Know-how jahrzehntelanger Triebwerksentwicklung
Hätte. Könnte. Wäre. Und dabei ist die lange Liste der Einflussfaktoren noch nicht zu Ende. Wann im Triebwerksleben welche Reparaturen nötig werden, ist abhängig vom spezifischen Flugprofil. Davon, ob das Flugzeug vor allem verschleißintensive Kurzstrecken fliegt. Oder pro Flug drei, vier Stunden im verschleißarmen Reiseflug dahingleitet. Oder die Jets vor allem in Wüstengegenden unterwegs sind. Denn dort wirkt die sandhaltige Luft wie feinstes Schmirgelpapier.
An dieser Stelle kommt ein entscheidender Pluspunkt der MTU ins Spiel. „Wir können nicht nur unser Wissen über die Daten aus dem tagtäglichen Triebwerksbetrieb einbringen, sondern auch das gesamte Know-how aus jahrzehntelanger Triebwerksentwicklung.“ Belastbar in Zusammenhang gesetzt und angedockt ans Engine Fleet Management der MTU Maintenance für die optimale Shop-Visit-Terminierung entsteht ein echtes Alleinstellungsmerkmal. „Das kann in dieser Ausprägung und in dieser Geschwindigkeit niemand anderes in der Branche“, ordnet Bullenkamp ein.
Blick in die Zukunft: Claus Bullenkamp kann mit Hilfe von KI zuverlässigere Prognosen für realistische Szenarien treffen und die Airlines so bei der Planung ihrer Instandhaltungstätigkeiten mit Weitblick ausstatten.
Ausgefeilte Heuristiken und Algorithmen statten Airlines mit Weitblick für die Planung ihrer Instandhaltungstätigkeiten aus
Das Projekt, in dem alles wie in einem riesigen Daten-Hub zusammenfließt, heißt APC 2.0. Die Abkürzung steht für Advanced Proposal Calculation. 2.0 bedeutet: Hier kommt die nächste Generation. „Wir haben uns schon mit der Vorgängerversion in der Branche eine sehr gute und erfolgreiche Position geschaffen“, sagt der Senior Manager. Jetzt läuft die Konstruktion der Ausbaustufe. Mit Big Data aus den MRO-Daten, eingeordnet und bewertet von künstlicher Intelligenz. Mit ausgefeilten Heuristiken und Algorithmen, gespickt mit Entwickler- und MRO-Know-how sowie Marktdaten aus allen Ecken der Welt. Wie durch Ferngläser schaut Bullenkamp damit ins Marktumfeld der Zukunft. Die beste Prognose für das realistischste Szenario zu berechnen, darum geht es. Und darum, sie in Echtzeit an die sich ständig ändernden Gegebenheiten anzupassen.
Die APC 2.0 nutzt den Fluggesellschaften und der MTU Maintenance gleichermaßen. „Wir sitzen da sprichwörtlich im selben Boot. Oder, um im Bild zu bleiben, im gleichen Flieger“, sagt Bullenkamp. Airlines profitieren von einer deutlich verlässlicheren Angebotskalkulation, die bald anstatt Wochen, wie im Triebwerksgeschäft bisher so üblich, nur mehr Tage benötigt. Im schnellen Luftfahrtgeschäft ein echter Vorteil. Mit der zweiten Generation des Projekts hat die Angebotskalkulation auch einen gänzlich neuen sogenannten „Point of Truth“ – die Daten sind demnach so qualitativ hochwertig und verlässlich, dass mit ihnen ein deutlich belastbarerer Blick in die Zukunft möglich wird. Die Risikostreuung ist geringer.
Im Jahresverlauf 2023 soll die APC 2.0 operativ gehen
Die MTU wiederum ist dank der neuen Prognosegüte aus dem Zusammenspiel des Engine Fleet Managements und der APC 2.0 in der Lage, die Effizienz bei der Materialbeschaffung zu erhöhen. Aber vor allem: die operative Planung zu verbessern.
Das APC 2.0 soll in Phasen für einzelne Anwendungen im Jahresverlauf 2023 operativ gehen. Das Modell dahinter soll skalierbar für weitere Triebwerkstypen werden.