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Die Transall fliegt in den Ruhestand
Über 50 Jahre leistete die Transall bei der deutschen Luftwaffe treue Dienste. Zum Jahresende geht ihre Geschichte zu Ende – und bei der MTU die des Tyne-Triebwerks.
07.2021 | Autor: Thorsten Rienth | 5 Min. Lesezeit
Autor:
Thorsten Rienth
schreibt als freier Journalist für den AEROREPORT. Seine technikjournalistischen Schwerpunkte liegen neben der Luft- und Raumfahrtbranche im Bahnverkehr und dem Transportwesen.
Der Mann hat wahrlich viel gesehen, seit er Ende der 1970er Jahre bei der MTU Aero Engines mit der Ausbildung zum Triebwerksmechaniker begann. Doch wie Christian Knoll da unter dem 5,45-Meter-Propeller steht, lacht er wie ein Grundschüler, der seine erste „Carrera“-Bahn in den Händen hält. Die aber umklammern keinen Rennauto-Handregler. Sondern zwei Propellerblätter. Zusammen mit dem Tyne-Triebwerk lieferten sie einst Schub für eine Transall C-160D. Jenem Allround-Cargo-Flieger, der für ein halbes Jahrhundert die Luftfahrtgeschichte Europas mitprägte – und die Biographie von Christian Knoll.
Losgelassen haben ihn Tyne und Transall all die Jahre nicht. In jungen Jahren noch selbst am Tyne geschraubt, arbeitet Knoll heute in der technischen MTU-Kundenbetreuung. Auf der anderen Seite sitzt Thorsten Schrader am NATO-Flugplatz in Hohn in Schleswig-Holstein, Lufttransportgeschwader 63. Als Oberstabsfeldwebel und Fachprüfer der Prüfgruppe Triebwerk ist seine Unterschrift die letzte, bevor ein instandgesetztes Tyne wieder zurück in die Luft darf.
Der Laderaum hat Platz für einen Puma-Hubschrauber
Dessen Power lässt den 32-Meter-Transporter schon nach 730 Metern Startstrecke auf eine Dienstgipfelhöhe von 8000 Metern abheben. Selbst mit 14 Tonnen Nutzlast bringt es die Transall bei 455 Kilometern pro Stunde auf eine Reichweite von 1.200 Kilometern. Sogar ein Puma-Hubschrauber passt in den Laderaum.
Das Heckleitwerk ist nach oben gezogen, um Fracht über eine große Rampe im Heck aufnehmen und – je nach Mission – auch im Flug absetzen zu können. Das Bugfahrwerk mit seiner Zwillingsbereifung lässt sich in beide Richtungen um 55 Grad drehen. Zusammen mit der Schubumkehr können Pilot:innen wie Oberstleutnant Tino Müller den Transporter auf einer normal breiten Landebahn wenden.
Retter in der Not, oder: Engel der Lüfte
Seit 18 Jahren sitzt Müller im Cockpit. Über 3.400 Flugstunden stehen in seinem Flugbuch. „Die Transall ist ein sehr gutmütiges, ein sehr sicheres Flugzeug“, sagt Müller. „Aber auch ein unglaublich vielseitiges.“ Vor allem ist das ihrer Historie geschuldet. Ursprünglich als Militärtransporter für Einsätze in Kampfzonen entworfen – daher auch der beschusssichere Boden unter Cockpit und vorderem Laderaum – schlüpfte die Transall vor allem in ihre Rolle als Retter in der Not.
Einsätze bei Hungersnöten in Äthiopien, dem Manjil-Rudbar-Erdbeben im Nordiran oder als Pfeiler der Luftbrücke ins belagerte Sarajewo brachte ihr den Namen „Engel der Lüfte“ ein. Für Sarajewo, das in einem tiefen Talkessel liegt und von ringsherum beschossen wurde, entwickelten die Luftfahrzeugbesatzungen ein eigenes Anflugverfahren: Über einen extrem steilen Anflugwinkel sollte die Transall die sichere Höhe so spät wie möglich verlassen.
Um sechs Grad kann sie ihre Nase nach unten drücken. „Das ist etwa doppelt so steil wie bei anderen Flugzeugen“, sagt Müller. Auf 60 Grad fahren die Piloten die Landeklappen dabei aus. Jetzt erzeugen diese nicht mehr nur Auftrieb, sondern auch ordentlich Luftwiderstand. Dann kommen noch die Luftbremsen hinzu. „Damit sind wir trotzdem noch langsam genug, um die Zelle des Flugzeugs nicht zu überlasten“, erklärt Müller.
Viele werden zu seinen 3.400 Flugstunden nicht mehr hinzukommen. Das Ende der Transall ist besiegelt. Nach über fünf Jahrzehnten heißt es zum Jahresende 2021: Zapfenstreich.
„Wie eine große Familie, in der man zusammenhält.“
Oberstabsfeldwebel Schrader aus der Prüfgruppe will am liebsten gar nicht dran denken. Selbst Hartgesottene wie er werden ganz weich, wenn es um den Transall-Ruhestand geht. „Ich war einmal dabei, als der Hydraulik-Kneifer für eine Transall-Zerlegung gekommen ist“, erzählt er. „Das ist ein Stück vom Leben, das viele von uns verlieren. Da blutet das Herz.“ Die Ruhe, die er dann auf seiner Terrasse haben wird, entschädigt nur wenig. 17 Kilometer sind es von dort bis zur Landebahn in Hohn. „Dieses angenehm ruhige Brummen hören wir bei jeder Platzrunde.“
Fast die ganze Welt hat Schrader mit der „Brummelbiene“ gesehen. Flog mit ihr Lebensmittel nach Äthiopien oder einen MedEvac-Einsatz von Australien nach Ost-Timor. Brachte Katastrophenhilfe nach Mittelamerika. Betreute Tiefflugübungen im Norden Kanadas. Verbrachte Monate in Afghanistan.
Überhaupt. Afghanistan. „Bei einem routinemäßigen Ventilwechsel zogen wir einmal nicht nur das Ventil aus dem Triebwerk – da kam eine Rohrleitung mit.“ Weder vor Ort, noch in Hohn sei das jemals passiert. „Wir konnten die Situation überhaupt nicht einschätzen. Ist das lediglich ein Steckrohr? Oder fiel vielleicht auf der anderen Seite ein Flansch weg, an dem das Rohr befestigt war?“
Schrader kennt die Handynummer von Knolls Vorgänger aus dem technischen Support der MTU. „Freitagnachmittags erreiche ich ihn – da war er gerade beim Segeln auf dem Starnberger See“, erzählt Schrader. Der MTUler schließt sich mit den Prüfstandskolleg:innen kurz. „Dann ruft er zurück und sagt: ‚Kein Problem, wir machen euch ein Repair-Kit mit dem Spezialwerkzeug und der Montageanleitung aus dem Teststand fertig.‘“ Als Eilsache fliegt der Kit im nächsten Transporter in Richtung Hindukusch. Einmal Transall, immer Transall. „Wie eine große Familie, in der man zusammenhält.“
Das Triebwerk der Transall: Bis zur Auslieferung des TP400-D6 für den Airbus A400M, war das Tyne die bisher stärkste Propeller-Turbine der westlichen Welt.
Tyne-Fakten & Zahlen
Bevor der Airbus A400M-Antrieb TP400-D6 abhob, markierte das Tyne die stärkste Propeller-Turbine der westlichen Welt.
Erflogene Stunden des Zweiwellentriebwerks mit seinem Planetengetriebe zwischen Propeller und Verdichter: 2,172 Millionen bis Jahresende 2020.
470 „Mk22“-Triebwerke montierte die MTU zwischen den Jahren 1965 und 1972 unter Rolls-Royce-Lizenz für die Transall. Dazu kamen 315 gefertigte „Mk21“-Teilesätze für den Seeaufklärer Breguet Atlantic. Danach verschob sich der Fokus auf die Instandhaltung des Tyne sowie die Fertigung von Ersatzteilen.
Mit Triebwerken wie dem Tyne stellte die MTU Schritt für Schritt Augenhöhe mit den internationalen Triebwerksherstellern her.
„Was die Betreiber am Tyne vor allem geschätzt haben: deren unglaubliche Robustheit“, erzählt Knoll. „Da gibt’s Teile, die kriegt man einfach nicht so schnell kaputt. Und nur weil mal irgendwo ein paar Öltropfen austreten, muss man das Triebwerk auch nicht sofort abschalten.“ Wenn doch? „Dann ist das Problem meistens auch schnell gefunden und schnell wieder gelöst.“
Sage und schreibe 928 MTU-Modifikationen hat das Tyne Knoll zufolge in den Büchern stehen. „Das Tyne war für die MTU ein ständiger Erprobungsträger, der in einem echt rauen Umfeld, also hot-and-high und sand-and-dust flog. Was für ein Glücksfall!“ 73 Weiterentwicklungs- und Verbesserungsprogramme setzte die MTU um. „Eines der umfangreichsten war sicherlich die Wasser-Methanol-Einspritzung für eine Extraportion Schub.“
Viel wichtiger ist aus Knolls Sicht aber etwas anderes. „Schritt für Schritt konnte die MTU mit militärischen Lizenzprogrammen wie Tyne, J79 und T64 Augenhöhe mit internationalen Triebwerksherstellern herstellen.“ Das wiederum habe die Tür geöffnet, bei Konsortium-Entwicklungen wie dem RB199 (Panavia Tornado), MTR390 (Eurocopter Tiger), EJ200 (Eurofighter Typhoon) und TP400-D6 (Airbus A400M) an Bord zu kommen.
Im September wird das Tyne-Mastertriebwerk zum letzten kompletten Korrelationslauf starten – fast 55 Jahre nach dem offiziellen Abnahmelauf am 18. November 1966 auf dem einstigen Prüfstand der MAN Turbo, der Vorgängergesellschaft der MTU.
Mit dem Neujahrsfeuerwerk gehen die Tyne-Lichter aus, dann bleibt noch die Erinnerung. Oder ein Streifzug durch den Außenbereich des MTU-Museums. Seit dem Frühjahr 2020 steht dort der Propeller einer Transall. Seriennummer D-103, taktisches Kennzeichen 50+66, Indienststellung 16. April 1971. Mitglieder der „Freunde der MTU-Triebwerkstechnik“ hatten das restauriert. Der Mann, der alles organisierte: Christian Knoll.